Papiertheater aus der Sammlung Schenstrøm
Hg. Doris Weiler Streichsbier
Oldenburg 1998
Kataloge des Landesmuseums Oldenburg Bd. 10
ISBN -3- 930537 - 07 - 9
© Landesmuseum Oldenburg
Zitate bitte mit genauer Quellenangabe
"Forschungsstelle Mediengeschichte
im internet, Universität Oldenburg"
Übernahme von Grafiken nur
nach vorheriger Absprache
Paula von Sydow - Antje Tietken
Papiertheaterdirektor Helge Schenstrøm:
'kleiner' Sohn des großen
'Fyrtaarnet' und König der Nissen
Helge Schenstrøm (1910-1988), Direktor des 'Dania-Theaters' in Kopenhagen, war ein Papiertheater-Besessener. Diese Bezeichnung macht ihm durchaus alle Ehre, denn noch heute behaupten die Papiertheaterspieler und -sammler stolz von sich, sie seien alle Verrückte.
Merkwürdig waren sie tatsächlich schon immer: Ihre Wohnungen waren Lager und Malerwerkstätten für Dekorationen und Figuren, sie waren Ton- und Beleuchtungsstudios sowie Probebühnen für sämtliche Theaterinszenierungen. Zur Premiere luden die Direktoren der kleinen Bühnen formvollendet ein, und die gelungene Aufführung wurde entsprechend gelobt und gefeiert; für ca. 15 Personen war die gute Stube des Hauses zum Theaterraum geworden. Übertrieben hat es in dieser Beziehung sicherlich der dänische Arzt und Spielerkollege von Helge Schenstrøm Poul Rademacher. Er erinnert sich: "Ich hatte ein sehr, sehr großes Theater, das unser ganzes Schlafzimmer in Anspruch nahm. Ich war gezwungen, meine Frau rauszujagen! Sie hat seitdem allein geschlafen, weil mein Theater fest installiert war."1 Vermutlich aber haben die meisten Familienmitglieder von Papiertheaterspielern unter dem teuren und zeitraubenden Hobby der 'kleinen' Direktoren zu leiden gehabt.
Nach dem Tod seines Vaters blieb Helge
Schenstrøm gemeinsam mit seiner Mutter im Haus der Familie Schenstrøm
wohnen.
Hier hat er für
sein 'Dania-Theater' einen Teil des Hauses erobert und für sich und
sein Publikum ein liebevoll eingerichtetes Theaterambiente geschaffen (Abb.
64); der Horsebakken 30 war immer eine der feinsten Theateradressen.
Abb.
64
Photographie von Helge Schenstrøms
Dania- Theater im Haus seiner
Mutter,
Datum unbekannt, LMO 17.000/42.2,1
Die umfangreiche Sammlung von gedruckten und originalen Dekorationen und Figuren war der Fundus für seine Inszenierungen. Um seine Bühnenbilder zu gestalten, benutzte Helge Schenstrøm sowohl Bogen aus den Verlagsrepertoires als auch originale Dekorationen von dänischen Papiertheatermalern. Eine Mischung, die dem Publikum offensichtlich gefiel, denn die Kritiken in der Zeitschrift des Papiertheatervereins Suffløren waren außerordentlich positiv. Helge Schenstrøm war als Anhänger der eher einfachen Spielweise bekannt, übertriebene technische Effekte, wie von Motoren bewegte Windmühlenflügel und die Verwendung von Rauch oder Feuer, gab es in seinen Aufführungen nicht.
In der Papiertheatersaison von 1948/49 feierte er das Jubiläum seiner 25. Aufführung. Zu dieser Zeit war er einer der Theaterdirektoren des Kopenhagener Kreises, der die meisten Stücke spielte, und sogar sein Spielerkollege und guter Freund W. Herring wünschte sich, auch mal wieder Aufführungen anderer Bühnen zu sehen.2
Als engagierter Papiertheaterdirektor war Helge Schenstrøm nicht nur ein leidenschaftlicher Spieler, sondern auch ein Sammler von historischen Bogen. Er war ein Spezialist für Papiertheaterproduktionen aus dem 19. Jahrhundert und stellte den Verlagen gern alte und vergriffene Bogen aus seiner Sammlung für Nachdrucke zur Verfügung. In der Zeitschrift 'Suffløren' gab er seine Kenntnisse über die frühen Papiertheaterbogen Dänemarks an seine Spieler- und Sammlerkollegen weiter. Eine große Anzahl dieser historischen Bogen gehört nicht zum Papiertheater, sondern es sind Anschauungsbogen mit Tieren, Landschaften, Sinnsprüchen, bekannten Persönlichkeiten, Nissen und Spielen. (siehe Abb. 19)
Der Brief, in dem sich Helge Schenstrøm in den 80er Jahren von seinem Papiertheater verabschiedet (Abb. 65), ist die einzige persönliche Mitteilung, aus der die Geschichte der Sammlung hervorgeht; seit Beginn des Jahres 1987 befindet sich seine Papiertheatersammlung im Besitz des Landesmuseums Oldenburg.
Helge Schenstrøm ist der Sohn
des großen 'Fyrtaarnet': Das im Dänemark der 20er/30er Jahre
berühmte Schauspielerduo 'Fyrtaarnet og Bivagnen' ist in Deutschland
bekannt geworden als 'Pat und Patachon'3.
Helges Vater - Carl Schenstrøm - ist der eigentliche Begründer
der Sammlung von Papiertheaterbogen. Bereits mit sechzehn Jahren besaß
er seine eigene Bühne, auf der er gern spielte. Im Dänemark der
90er Jahre des 19. Jahrhunderts war diese Bühne natürlich von
Alfred Jacobsen. Carl Schenstrøm hinterließ das Puppentheater
seinem einzigen Sohn Helge, als dieser dreizehn Jahre alt war. Doch hörte
er nie auf, die Sammlung um weitere, nationale und internationale Papiertheaterbogen
zu bereichern. Die Liebe zur kleinen Bühne
hat sich offensichtlich vom Vater auf den Sohn vererbt. Doch während
der Vater Carl Schenstrøm auf den Theaterbühnen und beim Film
Karriere macht, wird Helge zeitlebens in der kleinen Welt aus Papier gefangen
bleiben. Das sicherlich schwierige Verhältnis zwischen Vater und Sohn
kann allerdings die übergroße Verehrung Helges für seinen
Vater Carl nicht mindern. Dessen häufige Abwesenheit, bedingt durch
Gastspiele und Filmaufnahmen im Ausland,
Abb.
65
Brief von Helge Schenstrøm,
den er seiner Sammlung beige-
legt hatte,
1980er Jahre
(Kat.-Nr. 81)
kompensiert der Sohn Helge mit der Aufbewahrung zweier Koffer seines Vaters. Es sind Kleidungsstükke, Schminke, Schuhe, falsche Haare und Schnurrbärte - jene Attribute des berühmten 'Fyrtaarnet' -, die der Sohn sein Leben lang bei sich behält (siehe Abb.74 und 76). Darüber hinaus werden die Schattenfiguren von 'Pat und Patachon' das Logo des 'Dania-Theaters' und sind auf allen von dem Künstler Alex Secher entworfenen Deckblättern der kleinen Theaterprogramme abgebildet (Abb. 66). Auch die vom Vater geschriebenen Stücke wie 'Kerlighed i Fastelavn' (Liebe in der Fastnacht) von 1906 und 'En Juledrøm' (Ein Weihnachtstraum) gehören selbstverständlich zum Repertoire von Helges Bühne; 'En Juledrøm' ist sogar einer seiner größten Erfolge.
Abb.
66
Programmheft für Aufführungen
des Dania- Theaters,
Datum unbekannt.
(Kat.-Nr. 87)
Sein Engagement für das Papiertheaterspiel
bestimmte Helge Schenstrøms Leben, und seine Sammlerleidenschaft
war exzessiv; nach einigen Jahren war die Sammlung seiner dänischen
Bogen vollständig. Ende der 40er Jahre lagen die Dekorationen und
Figuren für ca. 230 Stücke und Komödien bereit, um jederzeit
in Szene gesetzt zu werden Mit liebevoller Sorgfalt sammelte Helge Schenstrøm
seine Akrobaten, Nissen, Tänzerinnen, Soldaten, Schornsteinfeger u.v.a.
hinter der Bühne: Griffbereit in Regalen warteten sie hier auf ihren
Auftritt. (Abb. 67) Jede ihrer Positionen und die Aufstellung der jeweiligen
Kulissen auf der Bühne wurden vorher vom
Regisseur Helge Schenstrøm akribisch genau festgelegt und dokumentiert
(Abb. 68). Schmale Textheftchen wurden zu dicken Büchern gebunden
und mit Inhaltsverzeichnissen versehen. In unförmigen Kladden sind
Zeitungsartikel über Verfilmungen von Jules Verne und Walt Disney,
Filmkritiken (Abb. 69), Hintergrundinformationen zu historischen dänischen
Stücken und nicht gebrauchte Dekorationen und Setzstücke archiviert.
Mühevoll
Abb.
67
Photographie: Hinter Helge
Schenstrøms
Bühne, Datum unbekannt,
LMO 17.000/48.2,5
Abb.
68
Helge Schenstrøms
persönliche Notizen
und Dekorationsstellpläne
zur
Aufführung des Stückes
"Dr. Faust"
tippte er lange Listen, in denen sämtliche seiner Dekorationen verzeichnet sind, und bestellte die jeweils aktuellen Papiertheater-Kataloge, um seine Sammlung zu vervollständigen.
Abb.
70
Viele der Bogen aus der Schenstrøm
Sammlung sind auf der Rückseite der Trägerpappe in einer merkwürdigen
Zusammenstellung von Zeitungsartikeln, Witzen und Annoncen beklebt. Darunter
sind zahlreiche Abbildungen von leicht bekleideten Frauen in teilweise
anrüchiger Pose zu sehen (Abb. 70). Es ist nicht mehr nachzuvollziehen,
ob eine Beziehung zwischen tagespolitischen Ereignissen, internationalen
Katastrophen und pornographischen Darstellungen beabsichtigt ist. Doch
drückt sich offensichtlich gerade in dieser Kombination der Wunsch
Helge Schenstrøms aus, an all dem teilzuhaben, was die Welt außerhalb
des Papiertheaters noch zu bieten hat.
Abb.
70
Für sein Publikum
ließ der Theaterdirektor Helge Schenstrøm die kleinen, von
Alex Secher entworfenen Programmhefte drucken, in denen - ganz professionell
- jeder Puppenführer, die Beleuchter, die Regisseure, die Theatermaler,
die Tonmeister und die Sprecher aufgeführt sind. Große handgemalte
Plakate (siehe Kat. Nr. 8) kündigten
die nächste Premiere im 'Dania-Theater' an. Die Worte, "Nimm 'Tanten
und Onkel und Schwiegermütter mit. Liebespaare werden nach hinten
in den Raum gebracht, so daß sie in Ruhe und Frieden schwärmen
können"4,
mit denen Helge Schenstrøm das Publikum begeistern wollte, waren
überall bekannt.
Der finanzielle und zeitliche Aufwand
für die Inszenierung eines Stückes stand in keinem Verhältnis
zu den Einnahmen durch das Publikum. Helge Schenstrøm war deshalb
nicht nur Theaterdirektor: Eine Zeit lang war er Filmvorführer bei
'Palladium', der produktionsfirma seines Vaters. Später dann verdiente
er sein Geld als Lagerarbeiter beim großen dänischen Warenhaus
'lllum'. Keine dieser Tätigkeiten war für ihn von Bedeutung,
das Papiertheater war sein Lebensinhalt.
Seit Beginn des Jahres 1946 war Helge
Schenstrøm Vorstandsmitglied des Kopenhagener Kreises, ein Zusammenschluß
von Papiertheaterspielern aus Kopenhagen. Diese Arbeit nimmt er außerordentlich
ernst, scheitert jedoch an den Kompetenzstreitigkeiten innerhalb des Vereins
und tritt bereits ein Jahr später wieder aus. Er zieht sich in die
private Atmosphäre seines 'Dania-Theaters' zurück,
bleibt aber Mitglied der gesamtdänischen Modelltheatervereinigung.
Bis weit in die 60er Jahre hinein bezieht er die Vereinszeitschrift 'Suffløren'
und bleibt über sämtliche technischen Neuerungen, Inszenierungen
und
Am 12. Januar 1947 wollte Helge Schenstrøm
in einer Rede vor der Generalversammlung des Vereins im Restaurant des
Kopenhagener Nationalmuseums die Gründe für seinen freiwilligen
Rücktritt vom Vorstand bekanntgeben. Hierfür hat er ein handschriftliches
Manuskript verfaßt, in dem seine Emotionen und Enttäuschungen
deutlich werden. Ob er diese Rede wirklich gehalten hat, ist fraglich.
Tatsächlich aber war die Vereinsarbeit zu dieser Zeit für alle
Mitglieder überaus schwierig, und Streitereien waren an der Tagesordnung,
denn sogar in der Vereinszeitung wurde dieser Konflikt in dem Artikel "Soll
die Dänische Modelltheatervereinigung in Vereinsscherereien enden?"5
thematisiert.
Neben seiner Leidenschaft für
das Papiertheater war Helge Schenstrøm ein begeisterter 'Nissenforscher'.
In Dänemark und Skandinavien ist 'Nissenforschung' eine durchaus ernsthaft
betriebene Wissenschaft. 'Nissen' sind kleine übernatürliche
Wesen: Sie wiegen ca. 300 gr., sind ungefähr 15 cm groß und
mit einer roten Zipfelmütze, blauer Jacke und graugrünen Hosen
bekleidet. Um ihre geringe Körpergröße auszugleichen, sind
sie siebenmal stärker als ein ausgewachsener Mann. Ein Nisse wohnt
immer auf einem Hof oder in der näheren Umgebung, und seine Aufgabe
ist es, sich um das Wohl aller - besonders das der Pferde - zu kümmern.
Wird ein Nisse nicht gut behandelt oder bekommt nicht genug Grütze
von den Hofbewohnern, verläßt er das Anwesen. Meist bringt dies
großes Unglück.
In der Weihnachtszeit des Jahres 1980
hatte Helge Schenstrøm, der von Freunden auch als "König der
Nissen" bezeichnet wurde, seine Sammlung von Nissen für eine Ausstellung
in der Bibliothek von Roskilde zur Verfügung gestellt.
Über den weiteren Verlauf seines
Lebens und seiner Spielerkarriere ist heute weder Bekannten noch Familienangehörigen
näheres bekannt. Einzig der Nachruf von seinem Freund und Spielerkollegen
E.K. Johansson in der Zeitschrift 'Suffløren' ehrt den im Jahr 1988
nach langer Krankheit gestorbenen 'Direktor vom Daniatheater' Helge Schenstrøm:
" ... das Papiertheater und 'Nisserne' haben ihn eingefangen."6
Freundschaftlich erinnert Johansson an alte Puppenspielertage, an gemeinsam
durchgeführte Aufführungen, an das umfangreiche Repertoire des
'Dania-Theaters' und an die ausgezeichnete Sammlung alter dänischer
Bogen. Gemeinsam mit Helge Schenstrøm spielte Johansson 1951 die
von Poul Rademacher inszenierte und mit handgemalten Dekorationen ausgestattete
Komödie 'Die Zirkuskinder' (siehe Kat. Nr. 219), ein Stück, das
bereits 1920 im 'lllustrierten Familien Journal' des Verlages Aller erschienen
war. In der Geschichte um die Entführung zweier Kinder und ihren Verkauf
als Artisten an einen Wanderzirkus übernehmen Schenstrøm und
Johansson die Parts der hinterlistigen Entführer, deren Verhalten
den Kindern gegenüber gemein und böse ist.
Die Interpretationen der Schurken 'Abel
Schwarts und 'Schwarzer Bill' - alias Helge Schenstrøm und K.E.
Johansson - sind derart überzeugend, daß sie in die Geschichte
der gelungensten Papiertheateraufführungen eingehen: "Man muß
sagen, daß so gute Schurken wie 'Abel Schwarts' und 'Schwarzer Bill'
ganz selten sind."7
Im März 1960 stehen 'Die Zirkuskinder' erneut auf dem Programm des
Kreisensembles in Kopenhagen. Wieder geben Schenstrøm und Johansson
mit großem Erfolg die Schurken Abel und Bill.8
Im Andenken an die gemeinsame 'Schurkenzeit' verabschiedet sich K.E. Johansson
von Helge Schenstrøm und unterschreibt den Nachruf mit 'Schwarzer
Bill'.
Anmerkungen
1 Taage Nielsen,
Ein alter Puppentheatermann erzählt, übersetzt von Karin Reimers,
in Suffløren, Nr.3, August 1997, S. 276
2 Neues vom Kreis,
übersetzt von Karin Reimers, in: Suffløren, Nr. 4, 1948, S.
124,
3 Zu Leben und Filmen
der Komiker "Pat und Patachon" siehe den Artikel 'Das
Volk tobte vor Vergnügen' von Bernd Poch.
4 E.K. Johansson,
Nimm Tanten, Onkel und Schwiegermütter mit ..., übersetzt von
Karin Reimers, in Suffløren, Nr. 3, 1988, S. 163
5 Theodor Madsen,
Soll die Dänische Modelltheatervereinigung in Vereinsscherereien enden?,
übersetzt von Karin Reimers, in Suffløren, Nr. 3, 1947, S.
83
8 Ihre Zusammenarbeit
in diesem Stück ist auf einem Tonträger in dänischer Sprache
festgehalten.
Helge Schenstrøms Kladde mit Zeitungsartikeln
Kat.-Nr. 83
Rückseite eines Bogens
aus
Helge Schenstrøms
Sammlung,
32,5 x 41,3 cm,
LMO 17.000/8.1000
-165-
Vereinsneuigkeiten auf dem laufenden.
-166-
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