Abdruck aus:
ES IST NICHTS, NUR PAPIER,
UND DOCH IST ES DIE GANZE WELT
(Peter Høeg)

Papiertheater aus der Sammlung Schenstrøm
Hg. Doris Weiler Streichsbier
Oldenburg 1998
Kataloge des Landesmuseums Oldenburg Bd. 10
ISBN -3- 930537 - 07 - 9
 

©Landesmuseum Oldenburg
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"Forschungsstelle Mediengeschichte im internet, Universität Oldenburg"
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Jens Thiele

Zur Intermedialität des Papiertheaters -
Die Papierbühne des 19. Jahrhunderts im Kontext visueller Unterhaltungskünste
 

Mit der Ausbreitung der optischen Künste und Vergnügungen im 19. Jahrhundert zeigte sich im Zuge gesellschaftlich-ökonomischer Veränderungen und optisch-technischer Erfindungen eine neue Faszination an der Intensivierung sinnlich-ästhetischer Erfahrungen durch Lenkung, Schärfung und Täuschung des Blickes. Vielfältige Weiterentwicklungen im Verlauf der Kulturgeschichte des Sehens führten sowohl zu öffentlichen, repräsentativen Medienphänomenen wie Panorama und Diorama als auch zu einer Privatisierung der medialen Wahrnehmung in der bürgerliche Stube, so z.B. durch magische Laternen im Spielzeugformat, Wunderscheiben, Bilderbögen, aufklappbare Theater-Bilderbücher, Verwandlungsbücher oder Papiertheater-Bögen. Erweiterung und Intimisierung des Blickes waren gleichermaßen Ausdruck neuer Sehbedürfnisse im bürgerlichen Zeitalter.1

Das Papiertheater war in diesem intermedialen Kontext ein Unterhaltungsmedium unter vielen, das über Illustratoren (u.a. Oskar Pletsch und Franz Graf Pocci), bildnerische Stile, Verlagsprogramme (Schreiber, Eßlingen und Scholz, Mainz) sowie über eine sich entwickelnde Bildindustrie eingebunden war in das Ensemble großer und kleiner Medien, öffentlicher und privater Vorführungen, angesiedelt zwischen Theater und Film, zwischen Bilderbogen, Guckkasten und Spielzeug.

Unstrittig ist, daß das Papiertheater seine wesentlichen Bezugspunkte und Inspirationen für Bühneninszenierungen zwar im großen Theater fand, aber doch spezifische Inszenierungsformen entwickelte, die verknüpft waren mit den vielen anderen visuellen Unterhaltungskünsten des 18. und 19. Jahrhunderts, deren Erscheinung und Bedeutung heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist.2

Die folgenden Untersuchungen zu Inszenierungsformen des Papiertheaters fokussieren solche ästhetischen Merkmale und Phänomene, die als intermedial bezeichnet werden können, da sie in ganz verschiedenen Medien des 19. Jahrhunderts sichtbar wurden, wenn auch in jeweils genrespezifischer Form. Trotz der Traditionslinie, in der das Papiertheater als großes Theater en miniature steht, erweist es sich unter dem hier eröffneten Blickwinkel als medialer Ort, an dem ästhetisch verdichtete Sehbedürfnisse der Zeit in vielschichtiger Form zusammentreffen.

In welchen Wechselbeziehungen stand nun die Inszenierung der Papiertheaterbühne zu denen populärer Medien wie Panorama, Diorama, Laterna Magica und zu Vorläufern des Films?



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Bewegungseindrücke durch Stimmungswandel -
Bezüge zum Diorama

Das Interesse, Bilder jenseits rein mechanischer Effekte als latent bewegt zu erleben, in ihnen Veränderungen von Stimmungen und Atmosphäre in zeitlicher Dimension wahrzunehmen, läßt sich in der Geschichte des Sehens weit zurückverfolgen. Die große Theaterbühne hatte hierfür vielfältige Formen atmosphärischer Übergänge durch Lichtinszenierung entwickelt, von denen auch das Papiertheater profitierte.3 Dessen besondere Faszination lag ja gerade in der äußersten Konzentration des Blickes auf ein kleines, in völliger Dunkelheit klar aufscheinendes Bild, in dem bereits minimalste Lichtveränderungen zu einem gesteigerten Seherlebnis wurden. Es waren vor allem die Hinterleuchteffekte, die im Papiertheater Eindrücke von vergehender Zeit, vom Wechsel der Tages- und Nachtstimmungen hervorriefen. Das Papiertheater nutzte die Erkenntnisse der Transparentmalerei, daß wechselnder Lichteinfall auf ein beidseitig bemaltes Bild unterschiedliche Szenen für das Publikum aufscheinen und somit Übergänge, Wandel, Veränderung assoziieren läßt. Pflüger und Herbst führen in ihrer Untersuchung von "Schreibers Kindertheater" eine Fülle von Spielanleitungen für Papiertheaterspieler an, die unter den Stichworten "Beleuchtung" und "Transparenz" die besondere Bedeutung solcher Stimmungseffekte durch transparente Papiere und wechselnde Lichtquellen dokumentieren.4



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Transparentbild
Abb.4
Alfred Jacobsen, Grauer Wolkenhintergrund
(Transparent: I Dynekilen 8. Juli 1716)
(Kat. Nr. 200)



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Der Bogen Nr. 404 des dänischen Verlagshauses Alfred Jacobsen (Abb.4) bietet in der Vorderansicht ein monochromes graues Bild; in den verschwimmenden Grautönen tauchen einige aufgehellte weißgraue Flächen auf. Der etwa 26 x 38 cm große Bogen ist 1912 als Farblithographie gedruckt. Er ist eingepaßt in einen festen Papprahmen (40 x 57 cm), dessen vordere Seite ebenfalls mit grauer Farbe handbemalt ist; die Farbe ist z.T. getupft, z.T. mit Leim aufgetragen, so daß Pinselspuren sichtbar sind. Der Illustrator des transparenten Seestückes ist unbekannt. Erst wenn man das monochrome Bild von hinten beleuchtet, wird das eigentliche Motiv erkennbar. Hinter der "Nebelwand" taucht eine Seeschlacht auf ("Dynekilen 8. Juli 1716"), die auf einem zweiten Bogen (ebenfalls als Farblithographie) unmittelbar hinter den ersten montiert ist. Auf blutrot gefärbter See kämpfen Segelschiffe gegeneinander, deren dunkle Silhouetten sich klar abzeichnen. Kleinere Boote mit Besatzung sind im Zentrum des Schlachtenbildes auszumachen. Zwei Explosionen in gelb-orangefarbenen Tönen deuten an, daß die Schlacht in vollem Gange ist.

Ziel der transparenten Bildinszenierung war es offensichtlich, Prozesse und Übergänge zwischen zwei Bildern erfahrbar zu machen, die zeitliche Dimension ins Bild einzuführen und somit Veränderungen des Bildes als Erlebnis vor Augen zu führen. Der allmähliche Wechsel der Lichtrichtung von vorn nach hinten sollte die Illusion eines sich aus Dunst, Wolken oder Nebel langsam herausschälenden Bildes hervorrufen. Die Kampfszene selbst dürfte durch wechselndes Licht (z.B. Flackern) und möglicherweise auch durch Geräusche (Detonation) belebt worden sein. Die beiden übereinandergelegten Bilder waren insofern nicht der Gegenstand der Vorführung, sondern eher die Folie für zeitlich gedehnte Zwischenräume, für Bewegungseindrücke und Handlungsmomente. Die Transparenz ermöglichte ein Spiel mit der Zeit am Bild.

Auf der Papiertheaterbühne wurden solche Inszenierungen zu einer Qualität des Einzelbildes und weniger (wie im großen Theater) ein ergänzendes Moment der Narration. Was dort Kulisse blieb, war hier ,Bild'. Diese ästhetische Differenz machte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Medium zunutze, das in unmittelbarem Zusammenhang mit den Hinterleuchteffekten des Papiertheaters gesehen werden muß und von dem das Papiertheater wesentliche Impulse erhielt. Sieht man von barocker Bühnentransparentmalerei und kleinen "Mondscheintransparents" um 1800 ab, so tritt das Diorama etwa ab 1820 als öffentliches Unterhaltungsmedium auf. 1822 eröffnete J.L.M. Daguerre, erfolgreicher Bühnendekorationsmaler und später nicht minder berühmter Fotograf, in Paris sein Diorama, das "Théatre Daguerre"5. Auf den beiden zu bewundernden riesigen Transparentbildern (im Format 22 x 14 Meter) waren bereits zwei Standardmotive künftiger Dioramen zu sehen: eine Berglandschaft sowie das Interieur einer Kathedrale. Das Publikum konnte beide Bildinszenierungen nacheinander durch einen (13 Meter langen) dunklen Tunnel hindurch betrachten, der die komplizierte und aufwendige Technik sowie Installationen für die Übergänge zwischen realplastischen Gebilden und Bildfläche verbarg. "Durch den Wechsel von Auflicht und Durch-



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licht, bewirkt durch eine große Anzahl einzeln zu bedienender Jalousien, durch Zuhilfenahme von Blenden und farbigen Filtern, wurde die Illusion eines zeitlichen Ablaufs, Veränderungen von Licht und Schatten etc. erreicht. Den Ablauf eines Tages von der Dämmerung bis zum Sonnenuntergang, 12 ganze Stunden raffte man in 15 Minuten."6
 

Abb. 5
Diorama, Abbildung aus:
Stephan Oettermann, Das Panorama
Die Geschichte eines Massenmediums,
Berlin 1980, S. 64



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Das Diorama, das sich nur in einer relativ kurzen Zeitspanne großer Popularität erfreute, konnte vor allem das zeitliche Erleben eines Bildes und die damit verbundene Prozessualität bildnerischer Qualität hervorbringen. Im Gegensatz zum Panorama, dessen perfekte Malerei zunehmend als starr und leblos empfunden wurde, bot es die Illusion von Bewegungsvorgängen durch subtile Lichtstufungen, natürlich ergänzt durch mechanische und akustische Elemente. In dieser spezifischen Ästhetik trifft es sich mit dem Papiertheater, das als kleines Diorama oder Zimmerdiorama betrachtet werden kann.

Dissolving pictures - Die Nähe zur Laterna Magica

Die Illusion von vergehender Zeit als einer bildnerischen Kategorie, hervorgerufen durch Übergänge von Hell zu Dunkel (motivisch beispielsweise von Tag zu Nacht), wurde im Sinne heutiger filmischer Auf- und Abblenden auch an einem anderen frühen Massenmedium, der Laterna Magica, erfahrbar. Wie im Diorama und Papiertheater suchte man mit der Laterna Magica in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsame Übergänge zwischen zwei Bildern bzw. zwei Bildphasen zu erzeugen und damit die Phase der Differenz als ästhetisches Erlebnis zu inszenieren. Technisch ermöglicht wurde die langsame, allmähliche Überblendung zweier bemalter Glasbilder durch die Erfindung des Doppelprojektors (später Dreifachprojektors). Synchron zum allmählichen Abblenden des einen Bildes erfolgte die Aufblende des anderen, ergänzt durch zahlreiche weitere Inszenierungsformen, so daß sich im Auge des Zuschauers ein Übergangsbild, eine Passage abbildete. Am Ende des Jahrhunderts waren diese sogenannten Nebelbilder (dissolving pictures) Teil einer hochentwickelten Laternenbild-Kultur, die in Europa eine beachtliche Verbreitung fand.7 In groß angekündigten Programmen wurden die Nebelbild-Vorführungen zu abendfüllenden Veranstaltungen, in denen das Publikum die Qualität der miniaturhaft gemalten Glasbilder und deren sanfte Übergänge auf großer Projektionsfläche erleben konnte.8 Für die intermediale Betrachtung des Papiertheaters ist speziell die Überblendtechnik von Interesse, die dem Wunsch des Publikums nach Zeitdehnung und langsamer Phasenveränderung in der Bildwahrnehmung entgegenkam.



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Plötzlichkeit als mediale Erfahrung

Das Genießen langsamer Bildentwicklungen und-veränderungen war im Zuge neuer Bilderlebnisse eine Spielart des Papiertheaters, der Wunsch nach Plötzlichkeit und Ereignishaftigkeit innerhalb eines erfahrbaren Bewegungsablaufs eine andere Der Eindruck von Zeitraffung und Plötzlichkeit wurde im Vorfeld filmischer Sichtweisen zu erlebnisbetonten Momenten der Bildrezeption. Vor allem die verbreiteten Wundertrommeln und Lebensräder zwangen durch die Kürze ihrer drehbaren Bildszenen zu pointierten, auf ein überraschendes Moment hin angelegten Bewegungsabläufen. Auf der Papiertheaterbühne konnten die Spieler vor allem durch mechanische Bewegungsmechanismen plötzliche Veränderungsphasen herbeiführen. Durch verschiebbare Figuren, drehbare Kulissen oder auswechselbare Dekors im Bühnenraum konnten blitzartige, abrupte Bewegungsveränderungen vorgeführt werden. Starre und Flächigkeit der ausgeschnittenen Figuren grenzten aber die innere Beweglichkeit der Figuren und ihre Bewegungsfreiheit im Raum stark ein; meist besaßen die Figuren eine Schauseite und damit nur eine Bewegungsrichtung. Bedingt durch die Stabilisierung auf der Rückseite, war der beidseitige Gebrauch der Figuren seltener. Dennoch scheinen die optischen Erfindungen des Jahrhunderts auch die Bewegungsformen der Papiertheaterbühne beeinflußt zu haben, und den Wunsch, Handlungen und Ereignisse aus dem ,normalen' Zeitkontinuum herauszulösen und sie mit unvermittelten, überraschenden Bewegungsmomenten zu versehen, in besonderer Weise geweckt zu haben.



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Abb. 6
Aller Verlag, Pegasus- Theater,
Figur aus 'Die Schatzinsel',
1942, 11 cm hoch,
LMO 17.000/ 31.3,5
 
 
 
 
 
 
 
 

Der Bildphasenwechsel als ,filmisches' Prinzip

Um der Einseitigkeit der Papiertheaterfiguren entgegenzuwirken, sie bewegter und handlungsfähiger erscheinen zu lassen, gab es im Papiertheater eine Vielzahl von Erfindungen. Interessant für das Phänomen der Plötzlichkeit sind solche Experimente, bei denen dieselbe Figur mit zwei unterschiedlichen Ansichten ausgestattet wurde. Auf dem Figurenbogen zur "Schatzinsel" (Abb. 6) besaßen die kämpfenden Figuren eine Schauseite, in der sie stehend mit Waffe agierten. Eine zweite Ansicht war bereits unter ihre Standfläche geklebt, blieb also während des Kampfes unsichtbar. Durch das Umkippen der Figur (wenn sie im Kampf getroffen wurde) konnte das Publikum eine ganz neue Ansicht des zu Boden gegangenen, verletzten oder getöteten Mannes wahrnehmen. Nun blickte es auf einen lang hingestreckten, liegenden Körper. Die erste Position wurde dabei durch die zweite verdeckt.

Der Wechsel der Ansicht zwischen stehender und liegender Figur konnte nur blitzartig und unvermittelt erfolgen, weil jedes langsame Kippen der starren, flächigen Figur lächerlich, da unrealistisch ausgesehen hätte. In dem abrupten Wechsel der Figurenansicht zeigen sich latent filmische Auffassungen von Bewegung. Das Publikum sieht faktisch nur zwei unterschiedliche Körperpositionen, assozIiert aber die zwischen beiden Bildphasen liegende Bewegung des



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Fallens mit, fügt ähnlich wie im stroboskopischen Bildwechsel beide Phasen zu einer Bewegungsspur zusammen; im Auge des Betrachters entsteht so etwas wie ein bewegtes Gesamtbild. Eine Reihe technischer Konstruktionen, speziell an den Führungsstäben der Figuren, belegt, wie verbreitet schnelle Veränderungen von Figurenpositionen waren.

Solche plötzlichen Phasenwechsel zwischen zwei Bildern waren außerhalb des Papiertheaters bereits um und nach 1800 populär. Schon in den frühen Laternenvorführungen dienten zahlreiche mechanische Tricks beim Vorführen zur Erzeugung von Plötzlichkeit in der dargestellten Bewegung. Durch ruckartiges Verschieben, blitzartiges Abdecken, Umklappen oder Drehen einzelner Bestandteile des Glasbildes entstand die Illusion von plötzlicher Verwandlung. Die Sinnestäuschung, die bei zwei plötzlich wechselnden Bildphasen entstand, war bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts Gegenstand wissenschaftlich-experimenteller Untersuchungen gewesen, damals noch ohne Blick auf optische Vergnügungen. Dies geschieht erst um 1823, als auf dem Spielzeugmarkt die sogenannte Wunderscheibe, das Thaumatrop, erscheint.9 An ihr wurde das physiologische Phänomen der Nachbildwirkung offenkundig, wonach auf der Netzhaut des Auges mehrere Lichteindrücke bei schneller Abfolge zu einem Gesamteindruck verschmelzen. In Verbindung mit der stroboskopischen Täuschung entstehen filmische Bewegungsabfolgen: Räumlich getrennte, zeitlich aufeinanderfolgende Sinneseindrücke werden als zusammengehörig empfunden, wenn sie formal nur minimal voneinander abweichen und schnell genug aufeinander folgen.

Abb. 7
Laternenbild "Schaukel",
Abbildung aus: MüGa Landesgartenschau Mülheim (Hrsg.),
Von der Camera Obscura zum Film, Mülheim an der Ruhr 1992, S. 32
 
 
 



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Natürlich konnte das blitzartige Umkippen der hier beschriebenen Kapitän-Smollet-Figur keine unmittelbaren filmischen Effekte hervorrufen, da die Voraussetzungen für eine Bewegungsillusion durch Täuschung des Sehapparates nicht gegeben waren. Dazu wichen beide Figurenphasen auch formal zu stark voneinander ab. Filmische Bildphänomene, wie sie durch Nachbildwirkung, Verschmelzungseffekt und stroboskopische Lichteindrücke entstehen, konnten sich allein durch das mechanische Umklappen nicht ausbilden. Dennoch wird man die in der Wahrnehmung assoziierten Bewegungen durch raschen Phasenwechsel eher filmischen Prinzipien zuordnen dürfen als mechanisch-kinetischen. Wie verbreitet solche ,filmischen' Effekte auf der Papiertheaterbühne waren, belegen auch die Regieanweisungen für Spieler, die Pflüger und Herbst ausgewertet haben. So erwähnen sie die Verwandlung Astralagus' in die Gestalt Rappelkopfs im "Alpenkönig", "was dadurch geschieht, daß ihr die Figur des Alpenkönigs schnell wegzieht und dafür die genannte vorschiebt".10

Wie im wirklichen Leben

Jenseits filmischer Bewegungsabläufe, aber doch im Blick auf die Beweglichkeit des erlebbaren Bildes, sind die Versuche zu bewerten, die starren Papierfiguren belebter erscheinen zu lassen, indem man einzelne Figurenteile mit einem Scharnier versah, so daß durch Fadenzug Körperteile in reale Bewegung versetzt wurden. Als erstes Beispiel sei hier eine zeichnerische Anregung aus der dänischen Fachzeitschrift "Suffløren" (Nr. 5/1947) genannt.
Im Sinne einer Teilanimation konnte ein verdeckter Unterarm zum Telefonieren hochgezogen werden.

Abb. 8
Titelseite des Vereinsblattes 'Suffløren',
Nr. 5, 1947, S. 89, LMO 17.000 / 47.4,5
 
 
 
 

Ähnlich wie bei der beweglichen Schattenfigur oder Marionette ging es darum, die Figur mit subtileren, am menschlichen Bewegungsapparat orientierten Teilbewegungen auszustatten. Die Figur erschien realistischer, ihr lllusionscharakter wurde verstärkt. Ob der Wunsch nach Perfektionierung vorgeführter Bewegungen immer dem Prinzip des Papiertheaters entsprach, kann bezweifelt werden, er dürfte aber Ausdruck eines Bedürfnisses nach einem höheren



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lllusionsgrad der Szenen gewesen sein, nach Bildern, die dem Leben angenähert erschienen. Auch zahlreiche andere mechanische Bewegungsformen, vor allem in Kulisse und Dekor, sollten den lllusionsgrad der dargestellten Szene erhöhen und den Eindruck ,realer', der Natur nachempfundener Bewegung hervorrufen.

Abb 9
Wellenstreifen, Setzstücke für den 'Fliegenden Holländer',
Künstler unbekannt, Gouache auf Pappe,
63 cm breit, LMO 17.000/30.4,1-30.4,3
 
 

In der Oldenburger Sammlung befinden sich drei Dekorteile aus dem Besitz von Helge Schenstrøm, die u.a. im Stück "Der fliegende Holländer" Verwendung fanden; in der freien Datierung lassen sich die drei handbemalten Wellenstreifen auf die Zeit ab 1910 eingrenzen (Abb. 9). Die auf fester Pappe gemalten Wellen sind in tiefen Blautönen gehalten, aufgehellt durch weiße Schaumkronen. Hintereinander geschichtet, staffeln sie sich zu dem plastischen Bild eines bewegten Meeres. Seitliche Ösen an zwei der drei Streifen deuten darauf hin, daß die Dekorteile in die Papiertheaterbühne hineingehängt und versetzt zueinander seitlich bewegt wurden, so daß der Eindruck tanzender Wellen entstand. Das vordere Wellenstück wurde starr aufgestellt, um den Bewegungsmechanismus zu verdecken. Die hinter der Inszenierung geführten Motive und Kulissenbilder sind nicht mehr vorhanden, dürften aber z.T. selbst bewegt gewesen sein oder von der Bewegungsillusion der Wellenstreifen profitiert haben.

Solche in sich beweglichen Kulissen- oder Dekorteile zogen nicht nur unmittelbare Verbindungslinien zu den bewegten Kulissen der großen Theaterbühne, sondern auch zu den vielfältigen Erscheinungsformen des beweglichen Panoramas am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Panoramen der frühen Phase boten dem Publikum in Europa etwa ab 1787 gemalte Rundbilder in eigens dafür gebauten Rotunden z. T. gigantischen Ausmaßes (zwischen 10 und 40 Meter Durchmesser). Die mit hohem technischen, zeitlichem und finanziellem Aufwand bemalten Leinwände gaben historische Ereignisse oder imposante Stadtansichten wieder. Auf Entstehung, Ästhetik und Rezeption der großen Panoramen kann hier nicht näher eingegangen werden.11 Von größerem Interesse für die Bewegungsmechanismen im Papiertheater sind jene späten Varianten des Panoramas, die im ausgehenden letzten Jahrhundert als Pleorama oder Moving Panorama bekannt wurden oder als bewegliche Zimmerpanoramen und Guckkästen auf Jahrmärkten erfolgreich waren. Sowohl im Papiertheater als auch in den beweglichen Panoramen trafen verschiedene Sehbedürfnisse zusammen, die durch die mittlerweile projizierbaren "lebenden Bilder" des Films geprägt gewesen sein dürf-



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ten. Bildnerisch war es der Wunsch nach einem an der empirischen Realität gemessenen illusionistischen Charakter der dargestellten Szene. Die frühen Filmbilder des Kinematographen (ab 1895) faszinierten das Publikum ja vor allem aufgrund ihrer Nähe zur "Wirklichkeit". "Wie durch einen Zauberschlag fangen die Figuren an auf die natürlichste Weise sich zu bewegen und bekommen Leben wie in Wirklichkeit."12 Den lllusionsgrad der frühen ,lebenden Photographien', wie die Filmbilder auch genannt wurden, konnten die gemalten Bilder der Panoramen zwar nicht erzielen, aber sie versuchten ihn mit Hilfe mechanischer Bewegungen zu kompensieren. Durch illusionistische Malerei und bewegliche Bildpartien sollte dem Publikum der Eindruck lebender Bilder vermittelt werden. Dieses Ziel verfolgten auch die beweglichen Papiertheaterbühnen, die ja zeitgleich erschienen. Freilich war das Interesse an einem möglichst perfekten Bewegungseindruck nicht als direkte Antwort auf den Film zu verstehen, denn das Papiertheater besaß eine Präsentationsform mit einer spezifischen Raumwirkung und einer eigenen Bildästhetik, die ja gerade seine Beliebtheit ausmachte; dennoch sind die verstärkten Bemühungen um Verfeinerung und Perfektionierung der Bildbewegung auf der Papierbühne implizite Folgen neuer Seherfahrungen in filmischen Erfahrungszusammenhängen.

Analog geriet auch das Panorama durch die Entwicklung des Films und schließlich durch die ersten Filmvorführungen unter Zugzwang. Die Starre, die man zunehmend an den unbewegten Panoramabildern empfand, sollte mit Hilfe kinetischer Bildelemente überwunden werden. So wie die schaukelnden Wellenstreifen im Papiertheater Bewegung direkt sichtbar machen und zugleich den Eindruck von Bewegung auf die dahinterliegende Szene übertragen wollten, so erfand man in den Moving Panoramas komplexe technische Transportapparaturen, um den Illusionsgrad der erlebten Szene für das Publikum zu intensivieren. Wie schon im Diorama strebte man ein umfassendes, ganzheitliches Erleben des Zuschauers an, der inmitten einer gebauten beweglichen Szene saß. Die Pariser Weltausstellung von 1900 bot hier neue Maßstäbe. Oettermann zitiert die Beschreibung des sogenannten Mareoramas, einem beweglichen Panorama, das eine Kreuzfahrt durchs Mittelmeer simulierte. Dabei sitzt der Besucher "auf dem Deck eines original nachgebauten Passagierdampfers und spürt deutlich das Schaukeln und Rollen des Schiffes [...] der berühmte Dekorationsmaler Hugo d'Alesi bemalte eine 7500 Meter lange und 12 Meter hohe Leinwand mit dem Reisepanorama, das auf einer Rolle aufgewickelt ist und von einer zweiten Rolle am Zuschauer vorbeigezogen wird"13



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Abb. 10
Mareorama, Abbildung aus:
Stephan Oettermann, S. 142
 
 
 
 
 
 
 

Wie schon im Fall des Dioramas bestand auch beim beweglichen Panorama der gravierende Unterschied zum Papiertheater in der unterschiedlichen Rolle des Zuschauers. Das Mareorama bezog den Zuschauer mit seinen ganzen Sinnen in eine lebensgroße pseudo-reale Szene ein, in der das Auge schweifen konnte. Die Papiertheaterszene suchte dagegen den gelenkten, intimen Blick des im dunklen Raum still sitzenden Betrachters. Beide Medien aber wollten dem Publikum ein sinnliches Wahrnehmungserlebnis an bewegten Bildern und Bildszenen bieten.

Montageprinzipien auf der Papierbühne

Bewegung und Bewegungseindrücke auf der Papierbühne, wie sie hier beispielhaft untersucht wurden, weisen das Papiertheater als intermediales Bildereignis aus, dessen Gestaltung sich im Kontext verschiedener medialer Entwicklungslinien entfaltete. Dabei drangen interessanterweise auch solche filmischen Momente ins Papiertheater ein, die der Bühne scheinbar wesensfremd sind wie die Idee der Montage.

1926 erscheinen bei Jacobsen unter der Bogennummer 386 zwei Kulissen zu H.C. Andersens Märchen "Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern"; der Titel des Bogens nennt sich "Gammel gade (vinter)" (Alte Straße im Winter). Das Hintergrundbild von Sikker Hansen oder Blumensen14 zeigt eine verschneite Gasse mit Blick auf die Kirche. Als Kulissenteil der mittleren Bühnenzone wurde auf der rechten Seite eine Hausfassade aufgestellt. Davor saß das kleine Mädchen und zündete die letzten Streichhölzer an, um sich zu wärmen. Über eine Stromleitung leuchtete ein Lichtpunkt in der ausgestreckten Hand der Figur auf. Die Erinnerungsbilder, die bei jedem weiteren gezündeten Streichholz auftauchen, waren in der Bühnenfassung von 1926



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Abb. 11
Alfred Jacobsen, Alte Stadt (Winter), C-Größe,
Nr. 386, 1926-27, 31 cm hoch, LMO 17.000/9.13;
Figur zu 'Das Mädchen mit den Schwefelhölzern',
Nr. 1111, ca. 6 cm hoch, LMO 17.000/9.17
 
 
 

 

nicht sichtbar, sondern dürften dem Publikum wohl über einen Vorleser vermittelt worden sein. 1939 ergänzte Jacobsen die vorhandenen Bögen durch vier Traumbilder ("Drømmesyn"), die nun mittels eines Schiebers von oben hinter einem Mauerstück der Hausfassade (das seitlich verschoben werden konnte) sichtbar wurden. Es sind die Szenen aus Andersens Märchentext, die in dieser nachgebesserten Fassung als Hinterleuchtbilder aufschienen. Die erinnerten Motive auf dem Schieber (Ofen, gedeckter Tisch, Kinder um den Weihnachtsbaum, die Großmutter) lösen sich zum Rand hin wie Traumszenen im Film in diffuse, nebelartige Flächen auf.

Diese neue Visualisierung der erinnerten oder fantasierten Bilder des Mädchens läßt sich zunächst einmal genauer auf den Text ein, in dem es heißt: "Ein neues [Schwefelhölzchen] wurde angestrichen, es brannte, es leuchtete, und wo der Schein auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Schleier." Es ist genau dieses Bild des Durchscheinens, das in der überarbeiteten Kulissenversion von 1939 aufgegriffen wird. Die Mauer wird im direkten Sinne transparent; in der Transparenz leuchten Erinnerungsbilder auf. Zwischen der Figur und den nacheinander aufscheinenden Bildmotiven im begrenzten Rahmen entsteht nun für den Betrachter eine assoziative Verbindung, die verschiedene Gefühle der Protagonistin ausdrückt.

In dieser verknüpfenden Form rückt die Bühneninszenierung die Idee der filmischen Montage ins Blickfeld, die in den 20er Jahren, also etwa parallel zu dem hier beobachteten Bühnenphänomen, zum ersten Male in theoretisch-experimentelle Zusammenhänge geriet. Lew Kuleschows viel zitiertes Montageexperiment von 1923 mit dem sowjetischen Schauspieler Mosjukin belegte, daß zwischen zwei oder mehreren Filmbildern ein assoziativer Freiraum im Kopf des Zuschauers entsteht, ein imaginatives ,drittes' Bild, das die Wahrnehmung der einzelnen Bilder erheblich beeinflußt.15 Nicht das einzelne gezeigte Bild ist demnach bedeutsam, sondern seine assoziative Verknüpfung mit anderen Einstellungen. Auf die-



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sem filmischen Montage-Phänomen basiert auch die Papiertheaterinszenierung zum "Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern". Das von hinten erleuchtete ,Traumbild' der Großmutter dient nicht in erster Linie der Hervorhebung eines Einzelbildes (obwohl technisch genau das angestrebt wurde), sondern will dem Publikum über den Dialog zwischen dem sterbenden Kind und dem Bild der Großmutter die Idee des Erinnerns vor Augen führen. Montagecharakter erhält diese Szene durch das Auf- und Abblenden der Traumbilder, das dem filmischen Bildwechsel nahekommt.

Das Beziehungsgefüge zwischen Papiertheater und den breit gefächerten Erscheinungsformen anderer visueller Medien des 19. Jahrhunderts ist mit den hier untersuchten Beispielen allenfalls skizziert, aber nicht umfassend dargestellt. Die herausgegriffenen ästhetischen Phänomene, die an den Exponaten der Oldenburger Ausstellung beobachtet wurden, sollten exemplarisch die subtilen Einflüsse vorfilmischer und filmischer Bildqualitäten auf ein Medium erhellen, dem gerade im Zuge seiner Renaissance eine ganz eigene, quasi autonome Ästhetik zugebilligt wird.

  



1 vgl. Thomas Kleinspehn, Der flüchtige Blick. Sehen und Identität in der Kultur der Neuzeit, Frankfurt/Main 1989, S. 160 ff 

2 Auch die große Theaterbühne war in komplexer Weise mit den vielfältigen Formen optischer Täuschungen und vorfilmischer Bewegungsillusion verbunden. Vgl. hierzu Marianne Viefhaus-Mildenberger, Film und Projektion auf der Bühne, Emsdetten 1961; vgl. auch Johann N. Schmidt, Vom Drama zum Film. 'Filmische'Techniken im englischen Bühnenmelodrama des neunzehnten Jahrhunderts, in: Harro Segeberg (Hrsg), Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst. München 1996, S. 261-177 

3 vgl. Johann N. Schmidt, S. 272 ff 

4 Volker Pflüger/Helmut Herbst, Schreibers Kinderheater. Eine Monographie, Pinneberg 1986, S.164 ff 

5 Ich beziehe mich in der Beschreibung des Diorama auf Stephan Oettermann, Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt/Main 1980, S.56 ff 

6 Oettermann, S. 63 

7 vgl Detlef Hoffmann/Almut Junker, Laterna Magica. Lichtbilder aus Menschenwelt und Götterwelt, Berlin 1982; vgl. Klaus Bartels, Proto-kinematographische Effekte der Laterna rnagica in Literatur und Theater des achtzehnten Jahrhunderts, in: Harro Segeberg (Hrsg ), S. 113-147 

8 vgl. Jens Thiele, "Man sieht nicht nur, man erlebt." Die optischen Vergnügungen des 19. Jahrhunderts, in: Detlef Hoffmann/Jens Thiele (Hrgs.), Lichtbilder - Lichtspiele. Anfänge der Fotografie und des Kinos in Ostfriesland, Marburg 1989, S. 270-287 

9 vgl. Friedrich von Zgilicki, Der Weg des Films, Textband, Hildesheim/New York 1979, S. 69-70 

10 Pflüger/ Herbst, Schreibers Kindertheater, S. 178 

11 vgl.Oettermann, S.41 ff; vgl. Albrecht Koschorke, Das
Panorama. Die Anfänge der modernen Sensomotorik um 1800, in Harro Segeberg (Hrsg.), S. 149-169 

12 Aus einer Filmbesprechung des "Wilhelmshavener Tageblatts" vom 10.12.1896; zitiert nach Bernd Poch, Viel Geld mit wenig Mühe. Wanderkino in Ostfriesland, in: Detlef Hoffmann/Jens Thiele (Hrsg.), Lichtbbilder - Lichtspiele, S. 318 

13 zitiert nach Oettermann, S. 142 

14 ...geben in ihren Annotationen der bei Jacobsen verlegten Bögen beide lllustratoren an. 

15 vgl. hierzu Viktor Siedler, Filmgeschichte ästhetisch - ökonomisch - soziologisch. Von den Anfängen des Films bis zum Tonfilm, Zürich 1982, S.128