Abdruck aus:

Optische Erfindungen von der Lochkamera zum Wanderkino
mit Beiträgen zur Kinogeschichte in Schwaben.

Schriftenreihe der Museen des Bezirks Schwaben,
herausgegeben von Hans Frei, Band 11.

© Museumsdirektion des Bezirks Schwaben, Gessertshausen 1995.
Zitate bitte mit genauer Quellenangabe "Forschungsstelle Mediengeschichte im internet, Universität Oldenburg" .Übernahme von Grafiken nur nach vorheriger Absprache

Wir danken der Museumsdirektion des Bezirkes Schwaben für die freundliche Erlaubnis zur Veröffentlichung der Beiträge.

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Karl Holzhauser

Von der Lochkamera zum Wanderkino

Aus den Anfängen der Nördlinger Mediengeschichte

Jahrhundertelang zogen wandernde Schausteller mit ihren Attraktionen und Kuriositäten von Stadt zu Stadt und von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, um Neugier, Sensationslust, Vergnügungsbedürfnis und Informationslust zu stillen. Im Reigen dieser Spektakel besaßen Bildmedien eine besondere Anziehungskraft. Auf sie wollen wir den Blick richten. Lassen Sie sich am Beispiel der Stadt Nördlingen im Ries Episoden aus der Geschichte von der Lochkamera zum Wanderkino erzählen.

Magna camera obscura

Das Prinzip der Lochkamera oder lateinisch "Camera obscura" war bereits im Altertum bekannt. Mit dieser sehr einfach zu konstruierenden dunklen Kammer verband jede Epoche unterschiedliche Erwartungen. Bis in die Barockzeit hinein ließen sich die Menschen vom geheimnisvollen Zauber, dem "Obskuren", und von der Poesie der Lochkamera faszinieren. Erst im nüchternen 19. Jahrhundert wurde sie dem technischen Denken unterworfen. Man suchte ihren Gebrauchswert und ihren Nutzen und formte sie zu einem funktionalen Gegenstand um. Zunächst diente sie als Zeichenhilfe, später wurde sie zum Photoapparat weiterentwickelt.

Messen und Jahrmärkte appellierten aber nicht so sehr an die Nüchternheit der Menschen, sie setzten auf Verblüffung und auf die Fähigkeit zum selbstvergessenen Staunen. Im alten Sinne des Zaubertheaters und Spektakels pries ein Schausteller auf der Nördlinger Messe 1866 seine prismatische Camera obscura an. Die Beschreibung dieses Ereignisses in einer anonymen Leserzuschrift im Nördlinger Anzeigenblatt vom 11. 6. 1866 läßt uns bereits an die Schilderung eines Kinobesuches denken. Nicht ohne voyeuristische Anklänge erfreute sich der Verfasser an den Szenen und Bildern, die vor seinem Auge abliefen:

"Durch die hier an der Kirche aufgestellte prismatische Camera obscura begrüßen wir etwas Neues, das zum Besuche wirklich auf das beste empfohlen werden kann. In einem dunklen Raume erblickt man in Mitte eines runden Tisches ein Bild, das an Zartheit des Colorits von keines Meisters Hand übertroffen werden kann, daß durch die tausenderlei Abwechslungen der herumgehenden Personen, in allen ihren Bewegungen, einen überraschenden Eindruck und die köstlichste Unterhaltung gewährt, insbesondere wenn man Bekannte und Freunde erblickt, die nicht ahnen können, daß sie gesehen und beobachtet werden, ohne zu wissen, von wem und wie. - So vereinigt sich hierin Kunst mit der angenehmsten Unterhaltung, und wir können versichern, daß Jeder nur sehr befriedigt das Cabinet verlassen wird, und der Preis von 6 kr. für die Haltung eines so mühsamen Geschäftes ein sehr geringer genannt werden darf.                              B........................"

Nebelbilder in der "Goldenen Bretzen"

Etwa 50 Jahre lang blühte im 19. Jahrhundert die reizvolle Unterhaltung der "optischen Nebelbilder". Zeigen wir auf, wie sich diese Kunst ausbreitete, in das allgemeine Bewußtsein vordrang und zu wirken begann. Voraussetzung dafür war, daß in London die Laterna magica aus dem Geiste elitärer barocker und höfischer Spielerei heraustrat. und demokratisiert wurde. Nun barg sie viele Eigenschaften in sich, die später dem Film seine Kraft als Massenmedium verleihen sollten. Die Nebelbilder bereiteten dem nachfolgenden Kinematographen den Weg, fielen ihm schließlich aber auch zum Opfer.

Am 13. April 1849 lesen wir in den Anzeigen des Wochenblattes der Stadt Nördlingen eine Ankündigung:


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"ln der goldenen Bretzen: Herr Georg Christ. Neuhofer, Kaufmann und Conditor, Besitzer der Karl Wißmann'schen optischen Nebelbilder von Künzelsau."

Schon einige Tage vorher waren in Nördlingen in einem Inserat im gleichen Blatt die Nebelbilder angekündigt worden:

Was sollten die Nördlinger zu sehen bekommen? Ein Kunstfreund verfaßte eine kleine, erläuternde und Zuschauer werbende "Kunstsache", die in der gleichen Ausgabe eingerückt war: "Am verflossenen Sonntag Abend ist uns durch die Darstellung der Döbler'schen Nebelbilder im Gasthaus Bretzen ein Genuß geworden, der wahrhaftig ausgezeichnet genannt werden kann. Nicht nur für Astronomen sondern für Jedermann sind diese Vorstellungen Gegenstände von großer Überraschung; der Kunstfreund wie der Laie kann nur mit der größten Befriedigung den Saal verlassen. Besonders möchte ich auf das Innere eines Kreuzganges bei Mondschein beleuchtet, sowie auf die Tellskapelle aufmerksam gemacht haben."

Verblüfft stellen wir fest: aus den Wissmann'schen waren Döbler'sche Nebelbilder geworden! Wer war dieser Döbler gewesen ?

Leopold Ludwig Döbler wurde am 5. 10. 1801 in Wien geboren. Seine Vorfahren waren Graveure und Goldarbeiter aus Schwäbisch Gmünd gewesen. Döbler wurde ein genialer Zauberkünstler, Professor der Magie und Hoftaschenspieler. Er bereiste die gesamte zivilisierte Welt und starb als hochgeehrte Berühmtheit am 17. April 1864. Bei einem Aufenthalt in London lernte Döbler 1842 die "Dissolving-Views" (Nebelbilder) in der Royal Polytechnic Institution kennen und erwarb die Apparatur sowie dazugehörige Bilder. Damit gewann er zu seinen sonstigen Zauberprogrammen eine weitere, leicht zu handhabende und auf Reisen gut transportable Attraktion hinzu. Sein kleinformatiges Bildmaterial ließ sich im Saal auf wirkungsvolle Ausmaße vergrößern.

Ein Zeitgenosse schreibt:

"Als der Professor Döbeler im Jahre 1843 unter dem Namen "Nebelbilder" diese neuen aus England importierten Wundererscheinungen in Berlin und anderen Städten Deutschlands vorführte, verfehlten sie nicht im Kreise des schaulustigen Publikums grosses Aufsehen zu erregen, und es fanden sich auch bald Concurrenten zur weiteren Ausbeutung dieser anziehenden Vorstellungen."

Mit seinen sorgfältig durchinszenierten Nummern zog Döbler 1845 in Stuttgart so viele Besucher ins Theater, daß aus drei geplanten Vorstellungen fünf wurden. Ein Bericht in der "Schwäbischen Kronik" vom 19. 2. 1845 vermittelt eine lebhafte Vorstellung davon, was die Nördlinger vier Jahre später erwarten sollte.

"Das Haus verdunkelt sich, der Kronleuchter wird unter ungeheurem Jubel der Gallerie herabgelassen und ausgelöscht, eine sanfte Musik beginnt. Der Vorhang rauscht langsam auf, und wir blicken in eine weite wolkige Fernsicht, in ein ächtes, gährend bewegtes Nebelbild. Eine Minute noch, so zerinnen die grau-blauen Wolken, Bäume und Berge tauchen hervor, vor unseren Augen bildet sich eine herrliche Landschaft, südlichen Zonen oder hohen Gebirgen entnommen, die Musik steigt kräftiger auf und voll beleuchtet steht ein meisterhaftes Gebilde da. Wiederum eine Minute, so treten auch diese Umrisse leise verschwimmend zurück, in den Wald ragt ein Mastbaum,


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ein Segel nebelhaft hinein, die Gebirge zerfließen in Wellen, das Sonnenlicht stirbt hin in ein mattes, mit wunderbarer Treue wiedergegebenes Mondlicht, das seine zitternden Reflexe im Wasser beweglich abspiegelt. So von Minute zu Minute, in zauberhaftem Wechsel und Uebergang, entwickelt sich aus einem Bild immer ein anderes; Landschaften und Seestücke, Tag und Nacht, Winter und Sommer, Architektur und Genre lösen sich auf, lösen sich ab. Die Musik begleitet in passenden Modulationen diese zauberischen Spiele, worin Optik und Malerei, Kunst und Wissenschaft, sich zum heitersten und fruchtbarsten Bunde verschlingen. Ein Scherz hüpft hinter der Anmuth her: kolossale schwarze Schatten, mit keckem Humor prächtig gezeichnet, jagen pfeilschnell über die große Leinwand hin; der Teufel selbst und seine höllischen Heerschaaren erscheinen uns, und wir gewinnen die lustigste Aussicht in ihr tolles Treiben. Von der Hölle zum Himmel, vom Lächerlichen zum Erhabenen führt uns der liebenswürdige Zauberer mit einem Schritte; seine Hand entrollt vor uns den Abriß des großen Weltgebäudes, Planeten kreisen, hell beleuchtet und schnell bewegt, um Sonnen, Monde und Planeten, und in steter Schönheit und Ordnung windet sich vor unsern Augen der Reigen der Schöpfung unter sphärischen Klängen ab. Alles das, so belehrend in seiner Anschaulichkeit als unterhaltend in seinem Wechsel, bietet Döbler in den; kurzen Raum einer herrlichen genußreichen Stunde dar."

Trotz seines Erfolges scheint Döbler einige Zeit später sein Projektionsgerät und seine Bilder an Neuhofer und Wissmann verkauft zu haben. Darauf deuten Inserate hin wie zum Beispiel für G. Wissmanns Nebelbildvorstellung im Ludwigsburger Waldhornsaal am 17. 12. 1848. Hier heißt es, daß die Nebelbilder "durch denselben Apparat dargestellt werden, mit dem Döbler sich Ruhm einerntete". Auch Bildmaterial und Programmabfolge lehnten sich am prominenten Döbler an, dessen Namen und Legende nutzend.

Wie auch immer, den Saal der Goldenen Bretzen in Nördlingen hat im April 1849 sicher niemand unbefriedigt verlassen, nachdem er das Nebelbilderprogramm genossen hatte.

Panoramen

Wenden wir uns nun den reisenden Panoramen zu. Schausteller mit Cosmoramen und Panoramen kamen seit dem 18. Jahrhundert in großer Zahl nach Nördlingen. Sie sollten sich am zähesten gegenüber dem Kinematographen behaupten. Das Rieser Tagblatt erwähnte noch 1930 in einem Bericht von der Messe, daß man im Weltpanorama "die wichtigen Weltgeschehnisse der letzten Zeit in aller Ausführlichkeit miterleben könne".

Einblick in ein solches Programm hatte 16 Jahre zuvor ein umfangreiches Inserat von Wittersheims Intern. Welt- u.. Schlachtenpanorama im Rieser Volksblatt gegeben:

Rieser Volksblatt vom 13.6.1914
Szenerien wie beispielsweise vom Untergang eines kanadischen Riesendampfers, von der Verhaftung eines dreifachen Raubmörders oder von den Greueltaten bulgarischer Soldaten im Ersten Weltkrieg sowie die Angabe der Zahl der jeweiligen Opfer appellierten offenkundig an die Sensationsgier der Menschen.


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Panoramen lebten davon, daß Berichterstatter mit Filmkamera und Photoapparat in der damaligen Zeit gewöhnlich noch zu langsam waren. Sie trafen häufig verspätet an den Schauplätzen ein und waren dann nicht mehr in der Lage, Aufnahmen vom eigentlichen Geschehen zu machen. Der Panoramamaler hingegen vollzog das Ereignis mit seinem inneren Auge nach und bildete auf der Leinwand ab, was er für das Wesentliche hielt. Hierfür besaß er jahrelange Erfahrungen, wodurch seine Bilder beim Betrachter von starker Wirkung waren. So erklärt es sich, daß in den Jahren 1911 - 1914 auf dem Nördlinger Brettermarkt die Bauten der Kinematographen und Panoramen gleichberechtigt nebeneinander Platz fanden.

Aus heutiger Sicht blicken wir auf Panoramen als Vermittler von Neuigkeiten und Informationen vielleicht mit einer gewissen Herablassung. Die Betreiber dieser frühen Bildmedien selbst führten ihr Gewerbe jedoch mit großer Selbstverständlichkeit und starkem Selbstbewußtsein. Immerhin konnten sie sich des regen Zulaufs der Bevölkerung sicher sein - auch in Nördlingen.

Ein abschließendes Zitat aus dem Nördlinger Anzeiger vom 10. 06. 1874 zeigt in holprigen Versen, wie sicher sich die Betreiber von Panoramen damals noch gegen die Konkurrenz anderer Bildmedien wähnten:

"Da ich seit 12 Jahren weiß,
daß hier die Kunst nicht hoch im Preis,
so wird, um auf die Kosten zu kommen.
von Heute nur 3 kr. genommen.
Nun kann sich Jeder überzeugen,
welche Pracht ich tu' vorzeigen;
solch' "Weltumschau" war hier noch nie
durch Optik und Photographie,
und wer das Kommen jetzt versäumt,
ist wahrlich selbst sein eig'ner Feind,
Ihr findet Viel und Excellent
am Rübenmarkt bei KOPELENT"

Der erste Kinematograph in Nördlingen

Die Augen der Nördlinger waren geschult. Seit dem Jahre 1770 wurde immer wieder "noch nie Gesehenes" angekündigt. Damals berichteten die Nördlingischen Wöchentlichen Nachrichten vom 3. 8. 1770 von einem Kunstkabinett, "in welchem sich alle Figuren nach dem Leben bewegen und jedermaenniglich ein sattsames Vergnügen finden wird." Der Eintrittspreis war schon damals nach den Plätzen 1 bis 3 gestaffelt gewesen und betrug 12, 6 bzw. 3 Kreuzer.

Welche Reaktionen waren im Februar 1900 auf ein Inserat zu erwarten von Bürgern, die seit 130 Jahren viele optische Sensationen miterlebt hatten und sich ein Urteil aus eigener Anschauung zu bilden vermochten?

Es könnte sein, daß die Nördlinger von der Ankündigung einer Vorführung, in der "alles nach dem Leben und wie im Leben in natürlicher Bewegung" gezeigt würde, nicht hochgerissen wurden. Immerhin hatte es der Inserent D. Dölle nicht versäumt, auf allerhöchste Referenzen hinzuweisen, um die Besonderheit seiner Vorstellungen gebührend hervorzuheben. Im Nördlinger Anzeigenblatt vom 20. 2. 1900 war zu lesen:

"Neu! Zum ersten Male in Nördlingen. Nur wenige Tage im Saale des ,Deutschen Hauses'! DÖLLE'S Theater lebender Photographien in natürlicher Größe vorgeführt. Edison's größtes Wunderwerk! Sehenswürdigkeit ersten Ranges! Dargestellt durch den neuesten und besten Kinematograph, genannt,Vitagraph'. - Beleuchtungsapparat mit 3000 Kerzenstärken. Der Kinematograph wurde am 16. April 1899 Sr. Maj. dem Kaiser in einer Separatvorstellung im Wintergarten zu Berlin vorgeführt.

Täglich neues Programm. Entree: I. Platz 50 Pfg., Il. Platz 30 Pfg., Kinder die Hälfte. Näheres auf den Plakaten ersichtlich. Vorstellungen finden vom Mittwoch bis mit Freitag (den 21., 22. und 23. ds. Mts.) je nachmittags 4 Uhr und abends 8 Uhr statt. Zu zahlreichem Besuche ladet ein Hochachtungsvollst die Direktion."


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Schon im darauffolgenden Tag schob Dölle eine zweite Anzeige nach, in der er detailliert auf sein Programm einging: "Zum erstenmale werden heute hier im Saale des Gasthofes zum ,Deutschen Haus' die überall mit größtem Interesse aufgenommenen ,Lebenden Photographien' vorgeführt werden und zwar mittelst des neuesten Kinematographen, Vitagraph genannt. Die vorgeführten Photographien in Lebensgröße stellen die mannigfachsten Bilder dar: Brandendes Meer, militärische Aufzüge (Kavallerie), einfahrenden Eisenbahnzug, Bahnhoftreiben, Kaiser Wilhelm in Stettin auf der Landungsbrücke, Reitszenen, eine Reihe heiterer Szenen etc., alles nach dem Leben und wie im Leben in natürlicher Bewegung. Da es sich bei diesen Vorführungen um eine der interessantesten Erfindungen der Neuzeit handelt, so ist der Besuch derselben jedermann, ganz besonders auch der studierenden Jugend bestens zu empfehlen."

D. Dölle war in Nördlingen kein Unbekannter. Zur Messe 1892 hatte er in einer Bude vor der Hauptwache ein "Wandelpanorama" von gläsernen Stereoskopen, die durch einen Rotationsapparat vorgeführt wurden, gezeigt. Der Zeichnung im Inserat zufolge könnte es sich um ein Kaiserpanorama gehandelt haben. Dölle zeigte geographische Ansichten, Bilder des Ozeanriesen Great Eastem sowie feierliche Anlässe. Für Kinder und Familien waren die Eintrittspreise besonders günstig. Im März 1899, außerhalb der Messezeit, stand er wieder in Nördlingen auf dem Brettermarkt und warb bei der Schuljugend für seinen Rotationsapparat, dessen Bilder durch Elektrizität in Bewegung gesetzt wurden.

Im Februar 1900 belegte er den Saal im Deutschen Haus und gab den Nördlingern erstmals Gelegenheit "lebende Photographien" zu erblicken. Vielleicht wollte er der anrückenden Konkurrenz anderer Jahrmarktskinematographen zuvorkommen, indem er in der dunklen Jahreszeit hier spielte. Möglicherweise erzeugte Dölle die 3000 Kerzenstärken durch Gas, denn Nördlingens Elektrifizierung begann erst nach 1910. Als Projektionsapparat benutzte er ein amerikanisches Gerät. Den Ort der ersten Filmvorführung können wir heute leider nicht mehr besuchen. Das Deutsche Haus fiel einem Bombenangriff kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges zum Opfer.

Weitere Jahrmarktskinematographen

Nur wenige Monate nach Dölle erschien zur Messe auf dem Nördlinger Brettermarkt bereits der zweite Wanderkinematograph. Vollmundig inserierte der Besitzer Nikolaus Rauh am 16. 6. 1900 im Nördlinger Anzeigenblatt:

"Zum ersten Male hier. Der Biograph, lebendige Photographie, das größte und imposanteste Schaustück des Jahrhunderts. - Kein Panorama, - alles Leben, Bewegung u. Wirklichkeit! "

Regelmäßiger Gast im Hauptort des Rieses war ab 1903 Leilichs Riesen-Kinematograph. In seinen Zeitungsanzeigen warb Philipp Leilich nicht nur mit einem detailliert vorgestellten Programm, sondern auch mit der technischen Ausstattung seiner Geräte: Dampfmaschine mit 36 PS, Beleuchtung durch 1 000 Lampen, Orchestrion, 45 Mann ersetzend. Die Eintrittspreise lagen je nach Platz bei 20 bis 60 Pfennig.

Rieser Volksblatt vom 13.6.1903


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Leilichs Filmprogramm scheint überwiegend französischer Herkunft gewesen zu sein. Um 1902 errangen französische Firmen die Vormachtstellung auf dem Filmmarkt. Pathé- Filme überschwemmten die Filmtheater. Daneben bestand aber auch die kleinere Star- Filmgesellschaft des Georges Méliès, einem der bedeutendsten Filmpioniere überhaupt. Er produzierte beispielsweise 1901 die Streifen Ritter Blaubart und 1902 Die Reise nach dem Monde, zwei Filme, die sich in Leilichs Angebot wiederfinden.

Philipp Leilich kam bis zum Jahr 1911 in ununterbrochener Folge zu den Messen auf den Brettermarkt. Immer wieder gelang es ihm, mit neuen Attraktionen Publikum für seine Vorstellungen zu gewinnen. Er nahm ab 1904 eigene Lokalaufnahmen von Nördlingen in sein Programm auf und strebte nach steter technischer Verfeinerung seiner Apparaturen. Seine Ankündigung von "haarscharfer Projektion, kein Flimmern, kein Zittern der Bilder" läßt auf den Einsatz der neuerfundenen dreiteiligen Blende schließen. 1911 finden wir sein Inserat zum letzten Mal im Rieser Volksblatt.

Seinen Platz auf dem Brettermarkt nahm E. Rierl's KinoPalast ein. Rierl gab bekannt, daß in "jeder Vorstellung auch sprechende und singende Bilder zur Vorführung gelangen". Erstmals war die Rede von einer speziellen Vertonung. Leilich hatte zum Film noch einfach die Orgel spielen lassen, um draußen das Publikum anzulocken und im Kinozelt den Filmen ihre beklemmende Stummheit zu nehmen. Rierl dagegen zeigte schon Tonbilder, bei deren Vorführung allerdings größtmögliche Stille im Kinoraum herrschen mußte, da die eingesetzten Grammophone nur eine geringe Lautstärke erreichten.

Kein happy end

"Während der Messe täglich! Auf dem Brettermarkt!" kündigte E. Rierl seinen Lichtspielpalast im Rieser Volksblatt vom 13. 6. 1914 an. Unbewußt doppeldeutig sprach er von "einem staunenerregenden Umschwung der Kinematographie". Er konnte bei der Vorführung seines 7aktigen Abenteuerstreifens Die Kinder des Kapitäns Grant nach Jules Verne noch nicht ahnen, daß er im nächsten Jahr seinen Kino-Palast in Nördlingen nicht mehr aufbauen würde. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde den Jahrmarktskinematographen der Todesstoß versetzt. Im Komet, der Fachzeitschrift der Schausteller, hieß es am 8. 8. 1914 nüchtern, "die Existenz der Schausteller ist erwürgt". Das Personal wurde einberufen, die Genehmigungen wurden eingeschränkt, die Plätze blieben leer. Doch es sollte noch schlimmer kommen. In den folgenden Kriegsjahren fand selbst die Nördlinger Messe nicht mehr statt.

Nach dem Kriege inserierte kein Jahrmarktskino mehr. Es wandelte sich zur festen, stationären Einrichtung in größeren Städten und hörte endgültig auf, Jahrmarktsattraktion zu sein. Bereits am 12. Mai 1912 hatte in der Spitalmühle das Zentral-Theater eröffnet und 1913 hatten in der Polizeigasse 11 die Nördlinger Lichtspiele ihren Betrieb aufgenommen.

Quellen

Stadtarchiv Nördlingen
Archiv der Rieser Nachrichten

Literatur

Sagemüller, Hermann: Kunstreiter, Gaukler, Wasserspringer, Nördlingen Baldingen 1989 (Privatdruck des Autors)

Oettermann, Stephan und Rebehn, Lars (Hrsg.): Bio- Bibliographisches Lexikon der Vergnügungsgeschichte, Druck in Vorbereitung

Diesen Aufsatz konnte ich nur verfassen, weil die in der Literaturangabe zitierten Autoren kompetent und fleißig vorgearbeitet haben. Ich bedanke mich sehr herzlich bei ihnen für ihre hilfsbereiten Auskünfte.

Dieser Beitrag erscheint unter einem Pseudonym. (Anm. d. Red.)

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