"Die Technik hat ausgedient": Während Gustav Gutheil zum letzten Mal einen Filmstreifen in den Projektor fädelt, wird im Foyer schon aufgeräumt. Für die digitale Zukunft fehlt dem Ali-Kino das Geld. FOTOS: GRÄBER

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Manches kleine KINO fällt der Digitalisierung zum Opfer – Ein Abschiedsabend im Ali Rheinfelden

DANIEL GRÄBER

Was hat das Ali nicht alles überlebt: die Eroberungszüge des Fernsehens, den Frontalangriff der Videorekorder und zuletzt den Siegeszug des Internets. Jede dieser neuen Techniken machte dem Kino zu schaffen. Die Zuschauer wurden weniger, doch ganz zu Hause blieben sie nie. Nun holt der technische Fortschritt wieder zum Schlag aus. Aber diesmal lauert der Feind nicht im Wohnzimmer, diesmal greift er von innen heraus an: Dem Kino gehen die Filme aus.

Das Ali ist eines jener Kinos, wie es sie in kleineren Städten noch gibt.Mit der Zeit gegangen und plötzlich aus der Zeit gefallen. In den 50er Jahren haben es die Albrechts aus Waldshut gebaut. Als großes Lichtspieltheater: Der Saal hatte 600 Plätze. Und oft reichten die nicht mal aus. „Dann haben die Nachbarn noch Stühle mitgebracht“, erinnert sich Ursula Albrecht, die zusammen mit ihrer Schwester den Kinobetrieb ihrer Eltern übernommen hat. Ende der 70er Jahre baute die Familie um. Aus dem großen Saal machten sie drei kleinere. Um mehr Filme zeigen zu können. Um gegen das Fernsehen zu bestehen.

Ursula Albrecht steht am Freitagabend im Foyer ihres Kinos, in dem sie als Kind Geburtstage gefeiert und Rollschuhlaufen gelernt hat. Sie schenkt ihren Mitarbeitern Sekt aus. Eine Abschiedsfeier: Ab Samstag ist das „Ali-Kinocenter“ Geschichte.

Im Inneren des Kinos steht Gustav Gutheil und wartet darauf, dass der Abspann des Kinderfilms zu Ende ist. Ein schmaler, dunkler Raum hinter den drei Sälen. Die Projektoren stehen schnurrend in einer Reihe, etwas Licht dringt aus seitlichen Schlitzen heraus. Durch Glasscheiben kann Gutheil das Bild auf den Leinwänden sehen, Ton hört er keinen. „Zeiss Ikon Ernemann IX“, sagt er.„Deutsche Wertarbeit, Mitte der 50er hergestellt, laufen immer noch einwandfrei.“ Der schlaksige Mann mit grauem Schnauzbart blickt etwas hilflos. „Aber die Technik hat ausgedient. Alles ist jetzt digital.“

Neben den Projektoren drehen sich zwei große Metallteller übereinander. Vom unteren wird das Filmband ab-, auf den oberen aufgerollt. Es klickt, der Kinderfilm ist zu Ende, „Ernemann IX“ schaltet sich automatisch ab. Gustav Gutheil knipst die Lampe an und fädelt den Anfang einer neuen Filmrolle in die Apparatur. „Der Hobbit“, für die Abendvorstellung. Zum letzten Mal.

Ein paar Dutzend Gäste schieben sich im Foyer an Concettina Bergmann vorbei. Die kleine Dame im schwarzen Pulli mit glitzernden Aufnähern hilft ihrer Kollegin beim Kartenabreißen. Seit bald 32 Jahren arbeitet sie im Ali, nur Filmvorführer Gutheil ist schon etwas länger dabei. Sie kam aus Italien an den Hochrhein, arbeitete in einer Textilfabrik, dann heiratete sie, bekam Kinder und suchte sich einen Abendjob. Das Kinopublikum kennt sie vor allem als Eisverkäuferin. Zwischen Werbung und Hauptfilm ging Concettina Bergmann immer mit ihrem roten Korb durch die Reihen.

Am letzten Abend macht das die Chefin selbst. „Mein Name ist Ursula Albrecht“, sagt sie in Saal 1. „Ich freue mich,mich persönlich von Ihnen zu verabschieden –mit einem kleinen Trostpflaster.“ Sie verteilt Magnum, Cornetto und Eiskonfekt. Einige Gäste sind überrascht. Sie wussten gar nicht, dass bald Schluss ist. „Was machen Sie jetzt?“, fragt eine Frau aus der letzten Reihe. „Ja, in Waldshut weiter“, antwortet Albrecht und bemüht sich dabei nicht wehmütig, sondern tatkräftig zu klingen.

Ihr Kino in Waldshut hat Albrecht umgerüstet, mit neuester Digitaltechnik ausgestattet. Die Filme kommen jetzt auf Festplatten, nicht mehr auf Rollen. Das Bild ist heller, schärfer und „irgendwie plastischer“, sagt die Chefin. Aber für Rheinfelden auch noch Digital-Projektoren zu kaufen,hätte den Familienbetrieb überfordert.

Seit Weihnachten laufen dieselben drei Filme

Eigentlich sollte erst Ende des Jahres das Zeitalter des 35-Millimeter- Films beendet werden. Doch die großen Filmverleiher machten schon zum Jahreswechsel Ernst mit der Digitalisierung. „Wir bekommen keine Kopien mehr“, sagt Filmvorführer Gutheil. Seit Weihnachten laufen im Ali dieselben Filme.

Am Ende des Abends wird Gustav Gutheil den „Hobbit“, „Fack ju Göhte“ und „Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“ von den großen Teller-Spulen herunter auf mehrere kleinere wickeln und die insgesamt etwa zehn Kilometer Film in Kartons verpacken. Der Filmspediteur wird sie abholen, der Verleihfirma zurückbringen und wissen, dass es seinen Beruf bald nicht mehr geben wird. Das digitale Kino braucht solche spezialisierten Logistiker nicht mehr. Gutheil geht es ähnlich. Schon zum zweiten Mal.Gelernt hat der 64-Jährige den Beruf des Schriftsetzers. In einer Zeit, als Buchstaben noch aus Blei waren. Jahrhundertelang war das so. Dann fegte der Offsetdruck den Bleisatz davon. Gutheil wechselte 1969 den Beruf, wurde Filmvorführer bei den Albrechts. Und heute muss er erneut mitansehen, wie ein technischer Epochenwechsel sein Handwerk entbehrlich macht. „Das geht nicht ganz spurlos an mir vorüber“, sagt er. Bis Ende des Jahres hätte Gutheil gerne noch gearbeitet,jetzt hofft er darauf, dass die umstrittene Rentenreform der großen Koalition Realität wird. Dann stünde ihm die volle Rente zu.

An was sich Gutheil erinnert, wenn er auf seine Kinojahrzehnte zurückblickt? An einen besonderen Film vielleicht? – „Ich schaue keine Filme mehr“, sagt er und fügt schnell hinzu, fast entschuldigend: „Es sind ja drei Säle zu bedienen,mit Vorfilmen. Das ist schon ein Gerenne.“ Gutheil startet den CD-Player, um die Pause in Saal 2 zu überbrücken. Er wechselt den Film im Rekordtempo. „Ernemann IX“ schnurrt aufs Neue, unermüdlich. Als wüsste er nicht, dass bald sein letztes Stündlein geschlagen hat.

Während die Zuschauer in allen drei Sälen noch auf die Leinwände starren, herrscht im Foyer Aufbruchstimmung. Aus der Popcornmaschine werden die Reste herausgeschaufelt. Mit einer kleinen Trittleiter versucht Eisverkäuferin Concettina Bergmann, an die Pinnwand heranzukommen. Eine grimmige Gestalt aus „Der Hobbit“ schaut ihr über die Schulter, dann sind die Plakate abgehängt. Ursula Albrecht steht vor der Kasse und unterhält sich mit zwei älteren Herren, die gerade hereingekommen sind. „Man könnte doch Geld sammeln, eine Art Aktiengesellschaft gründen“, schlägt einer der beiden vor. Ideen, um das Kino zu retten, gab es schon viele. „Wenn es um Geld geht, ist es mit der Unterstützung schnell vorbei“, antwortet sie. Die beiden Herren nicken verständnisvoll.

Draußen erhellt eine Neonröhre den fast leeren Schaukasten, die Leuchtbuchstaben auf dem Vordach sind kaputt. „Ab 1. Februar 2014 geschlossen“, steht auf einem einsamen Zettel. Darunter: „Bei Anfragen wenden Sie sich bitte an welcome-at-albrecht-kino.de.“ Vielleicht meldet sich ja noch jemand, der das Ali in die digitale Zukunft führen will.


Erschienen in „Der Sonntag (Freiburg)" vom 2.Februar 2014 („Die dritte Seite“) 

Mein Dank gilt Christiane Jundt, die mir diesen Artikel zusandte, und Daniel Gräber, der mir ohne zu zögern die Veröffentlichungserlaubnis auf www.massenmedien erteilte.