Hans-E. Happel:
Ein Leben fürs Kino 
Über den Filmvorführer Paul Weber

Seinen Namen habe ich auf vergilbtem, fleckigen Papier gefunden. Zwischen Resten alter Akten, die in einer Ecke des ehemaligen Tivoli-Kinos unter Bauschutt und Müll verborgen waren. Weber, Paul steht an der Spitze einer Liste mit den Namen der Angestellten im „Tivoli-Theater Bremerhaven". In der „Lohnwoche" vom 8. bis 14. August 1958 werden an sieben Frauen und zwei Männer insgesamt 513,- DM ausgezahlt. Den Spitzenlohn erhält Paul Weber: 110,-DM. Ich blättere im Telefonbuch und wähle auf gut Glück einen Weber, Paul an. „Haben Sie 1958 im Tivoli-Kino gearbeitet?" Ich habe den Richtigen am Apparat. Am nächsten Tag spreche ich mit dem Mann, der in Bremerhaven ein halbes Jahrhundert Kino-Geschichte begleitet hat. Begleitet? Er hat sie Tag für Tag angekurbelt. Er war fast 50 Jahre lang Filmvorführer.

Seine Begegnung mit dem Kino beginnt 1930. Paul ist 10Jahre alt. Seine Mutter hat einen Freund, Hermann Brinkmann. Er ist Filmvorführer im „Metropol". Das Kino in der Georgstraße, Ecke Grashoffstraße, war bei den Geestemündern ein beliebtes Familienkino. Sonntags um 14 Uhr nimmt Hermann Brinkmann den Jungen in die Kindervorstellungen mit. Er sieht Dick und Doof, Pat und Patachon, auch Charlie Chaplin. Und er sieht zum erstenmal die großen Maschinen im Vorführraum. „Ernemann VII B", die Bezeichnung zieht er mühelos aus dem Gedächtnis. Die Geräte wurden mit Kohle gefahren, sagt er. Mit dicken Kohlestäben wurde Licht erzeugt. Das sogenannte „Lampenhaus" im Projektor ist mit einem Hohlspiegel ausgerüstet. Über ein Schornstein-Rohr wird die vergasende Kohle abgeführt. Die glühenden Reste der ausgebrannten Kohlestäbe fallen in eine Dose, die unter die Maschine gehängt wurde. Es gab zwei Maschinen, nach 600 Meter Film mußte von einer Spule auf die andere überblendet werden. Eine Handarbeit. Vor dem Krieg, erzählt Paul Weber, waren die Filme, „Nitro-Filme", hundertprozentig brennbar. „Sicherheitsfilme" aus Amerika gibt es erst seit Anfang der 50er Jahre. Die winzigen Kabinenfenster zum Kino-Saal hatten Klappen, die bei Brandgefahr sofort zufielen. Wer Filmvorführer werden wollte, mußte ein halbes Jahr in die Lehre gehen und eine staatliche Abschlußprüfung machen.

1936: Paul Weber ist 16 Jahre alt, als er Herbert Hermann kennenlernt, den Filmvorführer vom „Tivoli-Theater". Das Kino liegt bei ihm um die Ecke in der Grünen Straße (heute Grazer Straße). Er will Vorführer werden. Der „Vorführerschein" durfte im Regelfall erst mit 21 Jahren gemacht werden. Aber Paul ist Elektriker-Lehrling. Der Minderjährige wird vorübergehend ohne Schein an die Maschinen gelassen. Pauls Lehrherr genehmigt die lukrative Nebentätigkeit. Paul verdient als Lehrling 7,50 Mark die Woche. Beim Tivoli hinter dem Projektor fast vierzig Mark.

Im Juli 1940 legt er in Hannover die Prüfung ab, die ihm die Befähigung bescheinigt, „Bildwerfer zur Vorführung mit Normalfilm selbständig zu bedienen." Der junge Filmvorführer, der mit den Nazis nichts zu tun haben will, kann sich erfolgreich vor der Hitlerjugend drücken. Auch der Partei ist er niemals beigetreten. Er hat sonntags keine Zeit, „zum Dienst" gehen. Er arbeitet ja im Kino. Er steht im Vorführraum oder kontrolliert die Karten und - ein Triumpf - die Ausweise. Manchmal darf er Jugendliche, die älter sind als er, nach Hause schicken.

September 1940: Paul Weber wird zur Wehrmacht eingezogen. 1941 muß er als Soldat nach Rußland ziehen. Das Kino begleitet ihn in den Krieg, und vielleicht hat es ihm das Leben gerettet. Ein Filmvorführer wird hinter der Front dringend gebraucht. Paul Weber dient bei einer Luftwaffen-Einheit in Smolensk. Mit einer „Bauer Solo Lux 2" zeigt er in einem großen Saal der Kaserne täglich Filme. „Propagandafilme überhaupt nicht. Reine Unterhaltungsfilme." Marika Rökk, Ilse Werner, Johannes Heesters. Als der Rückzug anfängt, lädt er die Bauer Solo Lax 2 ins Auto, „ein Borgward, ohne Anlasser, nur mit Kübel", und fährt über Land von Einheit zu Einheit. Johannes Heesters in „Karneval der Liebe" -elegant im Frack und schlagersingend - soll ablenken vom mörderischen Alltag der Soldaten.

Die große Kino-Zeit beginnt nach dem Krieg. Mit Carepaketen und Zigaretten, mit Jazz und Produkten aus der Traumfabrik Hollywood erobern die Amerikaner kriegsmüde Menschen. März 1949: Willi Braune, der Besitzer des größten „Vergnügungsunternehmens" in Bremerhaven, stellt Paul Weber als Vorführer im wiederaufgebauten Kino ein. Das prunkvoll erneuerte „Tivoli" ist das größte Kino der Stadt. „Es war wunderschön", erzählt seine Frau Erika, die damals als Aushilfe hinter der Kasse gesessen hat. „Allein der Aufgang war herrlich. Rechts und links gingen zwei Treppen im Rondell nach oben. Der Vorraum war ganz groß. Alles war mit Teppichen ausgelegt und Plüschsessel standen da. Es war phantastisch und anheimelnd."

Erika Weber erinnert sich an das Gedränge, an die Schlangen von Menschen, die bis unten am Treppenabsatz standen. Acht Platzanweiserinnen, sechs fürs Parkett und zwei an den Eingängen zum Balkon, kontrollierten die numerierten Karten. „Der Einlaß ging ruck-zuck. In einer halben Stunde waren alle drin. Und jeder hat seinen Platz gehabt. Aber die Platzanweiserinnen mußten auch spuren. Das gabs nicht, daß die sagten, ach, setzen Sie sich man irgendwohin. Der Chef hätte uns sonstwas erzählt." Was war der Chef für ein Mensch? „Gemütlich, aber auch sehr herrisch", sagt Erika Weber. „Im großen Stil war er tolerant, aber wenn es um die Exaktheit ging, sehr kleinlich." Willi Braune gab die Programmauswahl für sein Kino nicht aus den Händen. „Er war ein Fuchs", sagt Paul Weber. Den Titel, mit dem das „Tivoli" öffnet, wird er nie vergessen: „Morgen wird alles besser." Auch an den zweiten Film erinnert er sich: „Der Apfel ist ab" von Helmut Käutner. Boby Todd spielte den Apfelsaftfabrikanten Adam Schmidt, einen kleinen Mann der Nachkriegszeit, der nach einem Selbstmordversuch im Koma liegt.

Willi Braunes härtester Konkurrent auf dem florierenden Bremerhavener Kino-Markt war Heinrich Wedemeyer. Vor dem Krieg führte er - zusammen mit Walter Goldberger - das „Moderne Theater" in der Bürger, nach dem Krieg übernahm er das „Capitol" in der Hafenstraße. Wedemeyer pflegte wie ein englischer Gentleman aufzutreten, mit weißen Glacehandschuhen und Melone. Seine Platzanweiserinnen steckte er in Uniformen. „Wenn Wedemeyer und Braune in den Ring gegangen wären, die hätten sich erschlagen", sagt Paul Weber. Beide kämpften um die großen Erstaufführungen. Die Filme wurden aus Hamburg mit dem eigenen Wagen abgeholt, weil sie mit der Bahn nicht pünktlich angekommen wären. Erinnert sich Paul Weber an „Renner" in den 50er Jahren? Er nennt den Ballettfilm „Die roten Schuhe", Fritz Längs „Tiger von Eschnapur". Willi Braunes Lieblingsfilm war „Gilda" mit Rita Hayworth. Die erste Cinemascope-Produktion der Filmgeschichte, der Kolossalfilm „Das Gewand, feiert seine norddeutsche Premiere nicht in Hamburg oder Bremen, sondern in zwei Bremerhavener Kinos: Im März 1954 läuft der Film gleichzeitig in Braunes „Tivoli" und in Günter Hansels „Admiral" (in Geestemünde) an. Für die Breitleinwand mußten im Tivoli die beiden Proszeniumslogen links und rechts der Bühne abgerissen werden. Filmkritiker Hermann Freudenberger war hingerissen und skeptisch zugleich: Aus der „guten alten Briefmarke aus Kaisers Zeiten" war eine „riesige, bunte Schokoladentafel" geworden. Tausend neue Möglichkeiten sieht er auf das Kino zukommen, aber „von der Breitwand zur Breitwandkunst ist noch ein weiter, vermutlich jahrelanger Weg." Über Henry Kosters „Gewand" mit Richard Burton in der Hauptrolle schreibt er federleicht ironisch: „Wenn sich das Liebespaar umarmt, bleiben sieben Achtel der neuen Bildfläche frei, und man spürt die erste Ratlosigkeit, die erste Angst des Regisseurs vor diesem gewaltigen Block. Aber wenn beispielsweise vier Schimmel in fliegendem Galopp die gesamte Breite von elf Metern füllen und kraftvoll aufs Publikum zulaufen, das ist schon ein grandioser Zauber. Der Film ist nicht mehr das flüchtige Reizbild, das er mal war, er ist jetzt das schwere Plakat, das gigantische Transparent, das vergrößerte Passionsspiel im Schaufenster. Viel Volk. Viel Säulen."

Herbst 1958. Willi Braune zieht sich aus Altersgründen aus dem Kinogeschäft zurück. Er verpachtet seine drei Bremerhavener Theater - neben dem „Tivoli" das „Astoria" im selben Gebäude und die „Wulsdorfer Lichtspiele" - an die Bremer Firma Luedtke & Heiligers. Der Vorführer gehört zum Inventar. Er wird übernommen. Braune stellt ihm ein hervorragendes Zeugnis aus. „Infolge seiner großen Fähigkeiten, seines Fleißes und seines sonstigen Verhaltens ist er vom Vorführer zum Chefvorführer aufgerückt. In dieser Eigenschaft überwachte er die in der Zwischenzeit wieder aufgebauten drei Theater und hielt die Apparaturen ständig in gutem, gebrauchsfertigen Zustand. Jede Firma ist zu beglückwünschen, wenn sie einen derart zuverlässigen Mitarbeiter bekommt."                      

Paul Weber hat den richtigen Riecher für das, was sich anbahnt. 1960 verläßt er das „Tivoli". Er verläßt ein sinkendes Schiff. Neuer Kino-Zar in Bremerhaven wird ein examinierter Musikwissenschaftler aus Nürnberg. Theo Marseille durfte nach dem Krieg wegen seiner hohen Auszeichnung -er war Ritterkreuzträger -, das angefangene Jura-Studium nicht fortsetzen. Er wirft sich aufs Kino-Geschäft und gerät auf diese Weise 1956 nach Bremerhaven. Sein Kino-Imperium baut er allmählich zum Monopol aus. 1960 kauft der Betreiber des „Aladin" und des „Atlantis" eines der ältesten Kinos der Stadt, das 1912 geöffnete „Central". Er verwandelt es in ein modernes Lichtspieltheater mit Cinemascope-Leinwand und neuen Automatik-Maschinen. Er läßt den Balkon umgestalten und das Gestühl polstern, den Fußboden wärme- und schallisolieren, Decken und Wände „in gedämpften Farben" bespannen. Sein drittes Kino tauft er „City", es wird im Oktober 1960 eröffnet. Im Vorführraum steht Paul Weber. Erinnert er sich an die Filme, die er dort zeigt? „Vor allem Action-Filme", sagt er trocken.

Seine nächste Station ist das „Apollo". Das Kino in der Georgstraße hieß vorher „Europa". Theo Marseille kauft es 1963 nach dem Tod des bisherigen Besitzers, läßt es umbauen und gibt ihm seinen heutigen Namen. „Die Leute sind so arm in Bremerhaven, sie sollen wenigstens schöne Kinos haben", war sein Leitspruch. Die schönsten Erinnerungen hat Paul Weber an die Zeit im „Cinema". Wieder ein neuer Name für ein altes Kino, das „Gloria" in der Hafenstraße, das Theo Marseille übernimmt und mit 70-mm-Technik ausstattet. Mit Riesenleinwand und Sechskanal-Ton wehrt sich die Filmindustrie gegen das Fernsehen. Die Filmrollen wogen einen halben Zentner. Paul Weber ersetzt älteren Vorführer, der mit den schweren Rollen nicht hantieren kann. Er sieht „das beste Bild, das es je gegeben hat."

Im Herbst 1966 läuft „Doktor Schiwago" an und bricht alle Rekorde. Der Film läuft 25 Wochen im „Cinema". „Täglich von halb drei bis nachts um zwölf und immer voll. Das war ein Wahnsinn." Danach „Die zehn Gebote", ein Cinemascope-Schinken aus den 50er Jahren. Der längste Film, den er jemals gezeigt hat, war so lang, daß die Leute den letzten Bus nicht mehr kriegen konnten. „Doktor Schiwago" wurde für weitere fünf Wochen ins Programm genommen. Der Wahnsinn hält nicht lange. Als das Kino dichtgemacht werden mußte und die teuren Maschinen (140000 DM) nach Köln verkauft wurden, stand Paul Weber wieder im „City". Gleichzeitig arbeitet er im „Atlantis". Er muß die automatischen Maschinen nur noch startbereit machen und die Filme „umrollen". Alles andere erledigen jetzt die Platzanweiserinnen per Knopfdruck. Am Ende der 70er Jahre steht Paul Weber in den beiden neuen „Passage"-Kinos im Columbus-Center. „Ich habe alle Kinos durchgemacht", sagt er. Aber die Zeit der Höhepunkte ist vorbei. Er arbeitet noch bis 1983.

Ich frage Paul Weber, ob er schätzen kann, wieviele Filme er in seinem Leben gesehen hat. Er weiß es nicht. Er könne es unmöglich sagen. Wenn ich ihn nach Lieblingsfilmen frage, zögert er. Viel lieber als von den Filmen, viel lieber als von Hans Albers oder „Doktor Schiwago" will er von seinen Maschinen sprechen, die er niemals verlassen durfte, deren Einzelteile und deren Bezeichnungen er noch immer in- und auswendig kennt, und deren Qualitäten und Macken und technische Neuerungen er niemals vergessen wird. Er kann es auch nicht glauben, daß die alten Apparate im „Tivoli" nicht mehr da sein sollen, daß es den Vorführraum gar nicht mehr gibt und wahrscheinlich nicht einmal mehr den Raum darüber, wo die Motoren standen, die Umformer, die für den Gleichstrom sorgten.

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