Jens Thiele

Der begrenzte und der weite Blick

Fragen an die regionale Filmforschung

Eine Tagung über regionale Filmgeschichte ist 1992 mehr als überfällig; aber sie wäre noch 1982 überflüssig erschienen. Erst in dem historisch gesehen kleinen Segment einer einzelnen Dekade, nämlich in den letzten 10 Jahren, hat sich in der überwiegend an Produkten und Metropolen orientierten Filmgeschichtsforschung ein spürbares, neues Interesse am Regionalismus entwickelt, an der Aufarbeitung regionaler und lokaler Kinokultur, meist fernab der Filmzentren, die ja eng mit der Geschichte der Filmprodukte verknüpft sind.

Ist eine Filmgeschichte in Ostfriesland, Bayreuth oder Schwerin filmgeschichtlich, auch filmtheoretisch überhaupt relevant? Können die Spuren namenloser Kinematographenbesitzer, die abseits des mainstreams der Filmgeschichte verlaufen, neue Wege andeuten, oder versiegen sie schon bald im historischen Ödland? Ist regionale Filmgeschichtsforschung gar eine Modeerscheinung geworden?

Die Impulse und Anregungen zu einer regionalen und lokalen Filmforschung sind, wenn ich es richtig sehe, einmal von außen an die Filmwissenschaft herangetragen worden durch die Neubelebung der Diskussion über Regionalismus in den Sozial- und Kulturwissensc haften. Im Zuge einer neu empfundenen regionalen Identität, wie sie sich seit dem Ende der 70er Jahre zeigt (etwa durch die Aufwertung des problematischen Heimatbegriffs, durch die Rückbesinnung auf die Geschichtlichkeit von Orten und Regionen), geriet au ch die bis dahin ignorierte oder sogar mißachtete Kinogeschichte der Provinzen ins Blickfeld. 1982 erscheint die erste, bewußt auf einen kleinen Ort bezogene filmhistorische Untersuchung, die die kinematographische Entwicklung zu den Anfängen rückverfolgt - Helmuth Warstats Dissertation über Eckernförde.

Aber die überall auftauchenden regional bezogenen Untersuchungen waren auch Ausdruck innerer Unzufriedenheit unter den Filmwissenschaftlern. So recht glücklich war niemand mehr mit der Glätte und Geschmeidigkeit der offiziellen Filmgeschichte, die die Fil me und ihre Regisseure in den Mittelpunkt rückte, filmhistorische Epochen rekonstruierte und konstruierte, aber die gelebte Kinokultur, die ja etwas zu tun hat mit Orten und Menschen, mit Bildern und Bedürfnissen, ausklammerte.

Man wird neben den beiden genannten noch einen weiteren Grund erwähnen müssen für das neue Interesse an der Kinokultur der Provinzen und Kreisstädte, der Stadtteile und Vororte.

Das Interesse an vergangener Kinokultur hat auch etwas zu tun mit dem schleichenden Niedergang des Kinos, das kurz vor seinem 100-jährigen Geburtstag steht, und mit der Erkenntnis, daß die Geschichte dieses Mediums immer mehr in digitalisierte TV-Bilder transformiert wird, in ihnen unsichtbar wird, in ihnen verschwindet. Was Kino war, welche Bedeutung es für das Publikum hatte, wie Menschen auf das Kino reagierten und wie das Kino auf Menschen, das läßt sich sehr viel direkter in den Staatsarchiven und Sam mlungen einzelner Orte wiederentdecken als in den abstrakten filmhistorischen Abhandlungen.

Der Blick geht zurück in die regionale Kulturgeschichte, weil von der Aura des Kinos als besonderem Erlebnisort nichts mehr übrig geblieben ist, speziell in den mittleren und kleineren Orten, in denen sich der Niedergang besonders eklatant dokumentiert.

Eine dem Erlebnisort Kino entsprechende Architektur, ein kinematographisches Raumerleben gibt es, abgesehen von den großen alten Filmpalästen, auf die man in europäischen Metropolen stößt, nur noch im Film oder im Bildband. Lediglich nostalgisch aber wird man das neue Interesse an alter Kinokultur nicht nennen dürfen, da die Generation der regionalen Filmforscher die alten Kinos aus eigener Erfahrung kaum noch kennt.

Es sind ja nicht die 60jährigen, die heute die "andere" Kinogeschichte erforschen, sondern die 30- bis 40jährigen. Regionale Filmforschung ist somit im seltensten Fall direkte Erinnerungsarbeit, sondern folgt eher der Motivation, die historischen Spuren einer verblassenden Kultur an Orten zu sichern, die in der Regel autobiographisch belegt sind.

Diese Tagung hat sich mit den Schwierigkeiten und Chancen einer regionalen Kinokultur und ihrer geschichtlichen Dimensionen auseinanderzusetzen. Mittlerweile liegen ca. 50 Einzeluntersuchungen zur lokalen und regionalen Kinogeschichte vor. Regionale Film geschichtsforschung boomt. Die Tatsache, daß über die Kinogeschichte in Lübeck, Düsseldorf oder Münster geforscht wird, ist zu begrüßen; aber wir haben auf dieser Tagung auch die Probleme, die die bisherigen Ergebnisse regionaler Filmforschung aufwerfen, wahrzunehmen.

"Wann und wie kam der Kinematograph nach X oder Y?" Die meisten Untersuchungen zur regionalen und lokalen Filmgeschichte beschränken sich auf eine genaue, zeitlich aber oft verengte historische Rekonstruktion vor Ort. Die Chance, Filmgeschichte als Bestandteil einer umfassenderen Projektions-Kulturgeschichte zu begreifen, wird nur selten wahrgenommen. Dabei wäre gerade am historischen Material der Orte und Provinzen der Zusammenhang zwischen vorkinematographischen und kinematographischen Bildkünsten gut zu rekonstruieren.

Eine weitere Auffälligkeit: Regionale Filmgeschichtsforschung erscheint nicht selten als Selbstzweck. Ohne eine explizite wissenschaftliche Fragestellung zu entwickeln, werden immer neue Chronologien örtlicher Filmgeschichten erarbeitet.

Gibt es einen Mangel an wissenschaftlichen Fragestellungen im Bereich regionaler Filmgeschichtsforschung? Oder sind theoretische Fragestellungen schon immer Mangelware in der Filmgeschichtsschreibung gewesen, und wirkt sich dieses Defizit nun lediglich auch in der regionalen Abteilung aus? Dann spiegelten die lokalen und regionalen Untersuchungen nur die Defizite bisheriger Filmgeschichtsforschung. Denn die Probleme sind oft die gleichen: In beiden Fällen existiert ein Mangel an kontinuierlicher filmwiss enschaftlicher Theoriediskussion (vgl. Fischli 1982, Koch 1982), in beiden Fällen sind die Formen der Institutionalisierung für solide Forschungsarbeit unbefriedigend, weil unentwickelt. Jüngstes Beispiel dafür, mag die (Nicht-)Aufarbeitung der DEFA-Geschichte sein, die mit der Vereinigung schon fast verschwunden wäre. Die Universität Oldenburg besitzt zur Zeit wohl die repräsentativste Sammlung der DEFASpiel-, Dokumentar- und Kinderfilme; aber ist Oldenburg der Ort, an dem die DEFA-Geschichte zu archivieren und gar zu rekonstruieren ist? Verstrickt in rechtliche, organisatorische und ökonomische Probleme, droht hier ein historisch und "regional" bedeutsames Stück deutscher Filmgeschichte zu zerfallen. Wie forscht überhaupt heute jemand über lokale oder regionale Filmgeschichte? Wo und wie entstehen die Anlässe? Unter welchen personellen, finanziellen, institutionellen Bedingungen findet diese Art der Filmgeschichtsschreibung statt? Wo gibt es Orte und Foren, um Forschungsergebnisse zu präsentieren?

Ich glaube, das alles geschieht sehr zufällig. Im Gegensatz etwa zu den Sozialwissenschaften gibt es in der Filmwissenschaft keine Richtung, keine Schule, keinen Schwerpunkt und schon gar keine wissenschaftliche Einrichtung, die sich hauptthematisch mit Grundproblemen regionaler und lokaler Forschung auseinandersetzt. Forschungsförderung im Bereich der Filmwissenschaften ist noch immer die Ausnahme. So ist regionale Filmgeschichtsforschung die Sache einzelner und verlangt in der Regel eine ausgeprägte Einzelkämpfermentalität. Wohl nicht zufällig beziehen sich die vorliegenden Einzeluntersuchungen fast in keinem Falle auf andere Arbeiten, auch wenn diese nur wenige Kilometer entfernt erstellt worden sind. Regionalismus in der Filmforschung war und ist auch im Augenblick noch nicht viel mehr als die Addition vereinzelter Forschungsvorhaben vor Ort.

Heute befinden wir uns aber in einer anderen Phase der Filmgeschichtsschreibung als in den 80er Jahren, in denen die meisten Arbeiten entstanden. Wir müssen heute andere Fragen stellen als damals, vor allem kritisch nach der Funktion weiterer regionaler und lokaler Einzeluntersuchungen für die allgemeine Filmgeschichte fragen. Auffallend ist, daß die Vorworte der Forschungsarbeiten den Anspruch einer übergreifenden Fragestellung durchaus erheben, die Untersuchungen selbst ihn aber nicht einlösen.

Wo könnte der Ertrag der räumlich begrenzten Untersuchungen für die Zukunft liegen? Sind sie nur Korrelat zur "großen" Filmgeschichte, oder wäre diese neu zu schreiben, einem anderen Verständnis von Kultur und Kulturgeschichte folgend? Aus dem Bewußtsein solcher Fragen hätte sich regionale Filmforschung ebenso zu legitimieren wie die übergeordnete Filmforschung.

Bereits an solchen Überlegungen wird deutlich, daß die Aufarbeitung regionaler Filmgeschichte nicht länger eine Angelegenheit vereinzelter Forschung bleiben darf, daß sie auch unmittelbar Rolle und Funktion der Filmarchive, Filmmuseen und Sammlungsstätten berührt. Wie regional oder zentral hätte denn die Spurensuche in der Filmgeschichte zu verlaufen? Wer sollte was mit welchem Ziel sammeln? Das Erinnern und Bewahren von Filmgeschichte hat keine Tradition.

Viele wertvolle Materialien, ob regional oder überregional, sind aufgrund der Geringschätzung von Film und Kino als sammlungswürdiger Kultur verstreut oder vernichtet. Wenn nun verstärkt Film- und Kinokultur vor Ort erinnert wird, so sollten dabei keine historischen Fehler gemacht werden. Es scheint Sinn zu machen, daß regionale Filmkultur auch von Einrichtungen der Region erforscht wird. Andererseits darf Filmgeschichte auf der Archivebene nicht in säuberlich voneinander getrennten Schubladen verwaltet werden.

Wir haben ja erst zu lernen, daß beides, regionale und allgemeine Filmgeschichte, eine kulturelle Einheit bilden. Der Gegensatz von Region und Metropole ist dann ein konstruierter, wenn man Filmgeschichte auf der Landkarte betreibt. Das Massen- und Distributionsmedium Film war, wie aus den vielen Einzeluntersuchungen hervorgeht, immer recht schnell vor Ort, oft nur wenige Tage nach den Premieren in den Metropolen.

Es wäre also zu differenzieren nach kollektiven Mechanismen und Bedingungen der Filmindustrie und regional spezifischen Bedingungen (etwa Reaktionen auf Filme). In der wissenschaftlichen Bearbeitung der Filme sind regionale Grenzen zu überwinden und neue Formen der Kooperation zu erarbeiten, die vor allem den Nutzern und Besuchern der Einrichtungen dienen.

Auch wenn der Katalog unbeantworteter Fragen noch groß ist: Es wird deutlich, daß regionale Filmgeschichtsforschung notwendig ist, da an ihr Geschichte erinnert werden kann, insbesondere die Geschichte der Orte, der Menschen und ihrer Bildkultur. Wir wiss en nur noch nicht so recht, wie wir mit ihr umzugehen haben.

Die traditionelle Filmgeschichtsforschung hat gerade den Aspekt erinnerter Geschichte ignoriert, da sie über Orte und Menschen hinweggeschrieben wurde. Ich möchte an drei Stichworten die Bedeutung des Erinnerns für die Filmgeschichtsschreibung skizzieren:

Die Orte

Filmgeschichte war selten eine Geschichte der Orte, und wenn, so immer eher eine der Produktionsorte als der Rezeptionsorte. Das Kino in seinen architektonischen, ästhetischen, psychischen und sozialen Zusammenhängen war aber über Jahrzehnte ein hoch bedeutsamer Ort, ein Erlebnisort, der eng mit den Fantasien und Träumen des Kinopublikums verknüpft war .

Die Geschichte der Kinos ist eine Sozial- und Kulturgeschichte kollektiver Schaulust, die nur in Ansätzen untersucht worden ist. "Die Ganzheit, vom architektonischen Raumerlebnis bis zum filmischen Seherlebnis, wurde unter dem brutalen Überlebenskampf im Showbusiness reduziert auf einen kläglichen Rest." (Rosa Lachenmeier: Die Kinos von Basel-Stadt, in: Architekturmuseum Basel (Hg): Architektur für die Nacht. Kinoarchitektur, Basel 1990, S.19).

Es ist bekannt, daß die Filmtheater keine denkmalgeschützten Kulturorte waren, daß mit ihnen Kinokultur nach und nach verschwand und nur noch ein trister Abglanz von dem zurückblieb, was die Menschen über Jahrzehnte bewegt hatte. Ähnlich ist es zuvor den Dioramen und Panoramen, den großen Massenunterhaltungsstätten des 19. Jahrhunderts ergangen. Sie sind fast restlos verschwunden.

Ein Bewußtsein von der Geschichtlichkeit des Kinos als Ort emotionaler Erfahrungen läßt sich heute wohl nur über die produktive Erinnerung zurückgewinnen. Hier liegt eine zentrale Aufgabe lokaler und regionaler Filmgeschichtsforschung: vor Ort, dort, wo Kinos standen, wo Menschen auf den Film reagiert haben, die Kulturgeschichte der Abspielstätten aufzuarbeiten, zu rekonstruieren und zu dokumentieren. Wir haben eigentlich alles getan, um den Jugendlichen, die statistisch zu den häufigsten Kinogängern gehö ren, eine Ahnung von der Historizität des Kinos und des Films auszutreiben.

Nicht nur die Medienpädagogik hat hier kläglich versagt, mehr noch die Kulturpolitik der Städte und Gemeinden. Die Chancen, Filmgeschichte vor Ort Oberhaupt noch sichtbar machen zu können, sind mehr als begrenzt. Wer je eine film- und kinohistorische Aus stellung konzipiert und präsentiert hat, weiß, in welchen Ecken solche Kulturdokumente landen können, wenn nicht gerade ein Filmmuseum oder ein Staatsarchiv Interesse bekundet.

Ein Bewußtsein vom Kino als erinnerungswürdigem Ort geht einher mit der Erinnerung an die Menschen, die diesen Ort gebaut, betrieben und besucht haben.

Die Menschen

Film hatte und hat stets etwas mit Schaulust und Sinnlichkeit zu tun. In der Frühphase des Kinos sind emotionale, spontane Publikumsreaktionen auf das neue Medium ebenso registriert und aufgeschrieben worden wie kritische, analytische Urteile auf den Kino besuch (S. Fritz Güttinger: Der Stummfilm im Zitat der Zeit, Frankfurt/Main 1984). Das Filmerlebnis war ein bewegendes Thema der Pädagogen, Theologen, der Soziologen und Schriftsteller (Abb. 2). 1928 schreibt Thomas Mann in seinem Essay "Über den Film": "Sagen Sie mir doch, warum man im Cinema jeden Augenblick weint oder vielmehr heult wie ein Dienstmädchen... Wir waren neulich alle bei der Erstaufführung der "Großen Parade", auch Olaf Gulbransson, dem wir am Ausgang begegneten. Der lustige, muskulöse Es kimo war tränenüberschwemmt. "Ich habe mich noch nicht abgetrocknet", sagte er entschuldigend, und wir standen noch lange mit feuchten Augen in einfältiger Gelöstheit beieinander". (Güttinger, S. 72)

Heute ist Zuschauerforschung im Filmbereich zu einer öden Besucherstatistik verkommen. Aus der Wirkungsgeschichte des Films, speziell aus der regionalen, wäre aber wieder etwas über das Verhältnis von Publikum und Film zu erlernen, über das ursprüngliche und das heute fraglos gewandelte. Wie Kino heute wirkt (der Ort, der Raum, der Film), wie sie gemeinsam erlebt werden, welche Erwartungen sich mit ihnen verbinden, weiß eigentlich niemand, weil es kaum noch Filmrezeptionsforschung gibt.

Das Feld ist fast vollständig der Fernsehforschung überlassen worden. Die Geschichte der Gefühle im Kino besteht weiter, aber keiner interessiert sich dafür noch richtig. Hier liegt ein weiteres klares Defizit der Filmwissenschaften. Ob die sporadischen Ansätze der "Oral History" wirklich neue Impulse liefern können, ist unklar, da Medienbiographien selten zuverlässige Quellen sind.

Zur Erinnerung an die Menschen des Ortes Kino gehören natürlich auch Kenntnisse über all diejenigen, die Filmgeschichte durch Projektion, Transport oder Vertrieb, durch Regie, Produktion und Schauspiel geformt haben. Würde man die bisher vorliegenden Einz eluntersuchungen daraufhin durchsehen, ergäben sich bereits wichtige Bausteine zu einer Subgeschichte des Films. Schließlich die Bilder.

Die Bilder

Auf den ersten Blick scheint die Betrachtung der kinematographischen Bilder unter regionalem oder lokalem Aspekt wenig ergiebig. Der Film wurde rasch ein Massenmedium, das eine internationale Sprache suchte. Das ist richtig, und doch gibt es wenigstens z wei Argumente, auch die Filmprodukte selbst stärker als bisher unter regionalem und lokalem Blickwinkel zu betrachten.

Erstens: Der Film hat von Beginn an immer auch Bilder von Städten und Regionen eingefangen oder entworfen, Bilder von den Menschen, der Orte und Landschaften; dokumentarische und fiktionale, kritische und geschonte. Neben ihrem zeit- und kulturdokumentari schen Wert vermitteln diese Vorstellungsbilder auch viel von der Geschichte der Wahrnehmung und Imagebildung einer Region, eines Ortes.

Filmische Bilder über den Schwarzwald, das Ruhrgebiet oder die Lüneburger Heide transportieren immer auch kollektive Sichtweisen und Stereotype der Gebiete. An diesen Filmbildern hätten die Regionen selbst ein größeres Interesse zu entwickeln (ob sie diese Bilder nun selbst mitproduziert oder "aufgezwungen" bekommen haben).

Regionale Filmgeschichte würde dann auch den Blick der Region auf den Film einschließen und einen Dialog zwischen beiden in Gang bringen. Ein Beispiel dafür, wie Film und Region über die Bilder miteinander in Berührung kommen können, liefert die Nordostregion Englands.

Dort produziert eine Gruppe von Filmmachern, die "Amber Group", seit Ende der 70er Jahre semidokumentarische Filme über wirtschaftliche und soziale Krisen der Region, u.a. über den Niedergang des Fischfangs. Die Amber Group lebt und arbeitet in Nordosteng land und entwickelt mit ihren Filmen ein Bewußtsein vom Leben der Menschen in der Region. Eine Utopie für Niedersachsen oder Schleswig-Holstein?

Zweitens: Die Wirkungsgeschichte der Bilder (etwa Skandale, Verbote, Prozesse) ist immer an Orte und Menschen gebunden und kann etwas von dem zeitlichen und örtlichen Klima vergangener Jahrzehnte vermitteln. Gerade die Aufarbeitung scheinbar filmfremder Unterlagen der städtischen Archive (juristische, steuerliche oder kirchliche Materialien) verdeutlicht immer wieder, daß Bilder (sprich einzelne Filme) in bestimmten Gebieten besondere Reaktionen provoziert haben. Filmische Wirkungsgeschichten aus den Regi onen sind bislang viel zu selten aufgearbeitet worden. Sie könnten wichtige Ergänzungen zu der Produktgeschichte liefern.

Mit solchen Forderungen sind wir schon längst bei Fragen der gegenwärtigen Film- und Kinokultur in den Städten und Regionen angelangt. Die Überlegungen zum Umgang mit regionaler Filmgeschichte betreffen ganz entscheidend auch die heutige Kinokultur vor Ort. Unterstellt man, daß für die 90er Jahre die Rückgewinnung eines Bewußtseins vom Kino als geschichtlichem Ort mit einer kulturellen Tradition wichtig wäre, dann wird dieser Prozeß am ehesten über eine veränderte gegenwärtige Film- und Kinoszene möglich sein.

Wir können zur Zeit zwei gegenläufige Entwicklungen beobachten. Der Prozeß der Entwurzelung von Kinokultur schreitet voran durch die Installation der großen Cinemax- und Multiplex-Paläste, die man nicht pauschal diffamieren kann, die aber weder eine kinohistorische noch eine regionale Identität suchen oder vermitteln.

Ihre Standorte, ihre architektonischen Erscheinungsbilder und ihre ästhetischen Konstruktionen können wie in einem Planspiel überall in Europa realisiert werden. Demgegenüber zeigt sich allerorts ein neues Interesse an einer regionalspezifischen Kinokultur, die sich vor allem in der Organisation von Filmfestivals äußert. Die Idee der Filmfestivals ist mittlerweile in Kleinstädte und Provinzen hineingetragen worden.

Das ganze Jahr über feiert man Filmfeste mit mehr oder weniger erkennbarem Bezug zum Ort, zur Region. Junge Filmemacherlnnen erhalten Urkunden aus Orten, von denen sie vorher noch nie gehört haben.

Regionen, sprich Bundesländer, machen sich für die Förderung von Kinolandschaften stark, stärker jedenfalls als zuvor; Stiftungen, Förderungen und Büros sind dafür eingerichtet worden. Auch Projekte zur Wiederbelebung der Kinoszene fehlen nicht; von Oldenburg aus startet z.B. im Auftrag der LAG Film ein rollendes, mobiles Kino zwischen Ems und Elbe (gefördert vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur).

Der KVR (Kommunalverband Ruhrgebiet) wirbt für das Ruhrgebiet mit einer Camera Obscura im Mülheimer Wasserturm, installiert von Mülheimer Filmmacher Werner Nekes. Ein "starkes Stück Deutschland", wie wir in der Werbung erfahren. Und neuerdings werden auch Ausbildungsstätten im Bereich der Filmproduktion in filmschwachen Regionen verankert. Sind das bereits die Auswirkungen eines neuen regionalen Bewußtseins in der gegenwärtigen Medienkultur?

Ich glaube, der Schein trügt: Nicht wenige Filmfestivals werden über die Monopolstellung der Filmtheaterketten lediglich in die Provinzen importiert, mit ein wenig regionalem Flair und viel überregionaler Medienprominenz. Filmfestivals dieser Art lassen sich heute mit wenig Aufwand prinzipiell an jedem Ort durchführen; mit regionalem Kinobewußtsein muß das noch lange nichts zu tun haben.

Von der Förderung der regionalen Kinokultur, die sich auf dem Papier gut ausnimmt, bleibt vor Ort in der Regel wenig übrig. Den unabhängigen Filmtheatern steht das Wasser bis zum Hals. Aus eigener Kraft können sie ihr Theater nicht in eine Stätte verwandeln, die etwas von der Aura des Kinos als Erlebnisort verströmt, nicht im Sinne nostalgischer Entrückung, sondern in Kenntnis alter und neuer Bedürfnisse des heutigen Kinopublikums.

Was ist Kino heute in der Provinz? Zu oft nicht mehr als eine entseelte, entwurzelte Abspielstätte, die weder architektonisch noch raumästhetisch auf das verweist, was sie vorgibt anzubieten. Ein unhistorischer Ort und ein unwirtlicher obendrein, der nicht einmal Sitzplätze im Foyer aufweist.

Was müßte Kino sein, damit es im Bewußtsein der Menschen, die es benutzen, zu einem Ort kultureller Tradition und Identität wird? Es müßte ein Ort sein, der die Besonderheit des Filmerlebens auch räumlich, ästhetisch und historisch spüren läßt, der etwas über die Filme, aber auch über sich selbst als Medium und Kulturort erzählt, etwas über die Kinogeschichte des Ortes oder der Region.

Ein Ort also, für den es sich lohnt, den Fernseher zu verlassen und Geld auszugeben. Ein Ort, der neben dem Vorführraum Platz bietet für Gespräche, für Ausstellungen, für spezielle Filminteressen, ein Ort zum Stöbern in Zeitschriften, Bildern und Büchern, ein Ort, der der Vielfalt von Kinokultur gerecht wird. Aber auch andere, alternative Formen sind denkbar, etwa Verbindungen zwischen Kino, Laterna magica und Theater, Mischformen also, die die Trennungen zwischen den Künsten aufheben.

Kino, aber auch der Film, müßte im Rahmen einer integrativen Kulturförderung der Regionen eine neue Rolle spielen in Produktion und Reproduktion. Film und Kinokultur müßten auf unserer mentalen Landkarte sichtbar werden.

Auch wenn solche Gedanken nicht neu sind, sie sind aber auf einer Tagung, die sich mit Vergangenheit und Gegenwart der Film- und Kinogeschichte befaßt, neu zu formulieren. Was können wir aus der Vergangenheit der Kinokultur lernen für die Gegenwart, was müssen wir rückgewinnen, was müssen wir für die Zukunft einer Kinokultur neu entwickeln?

Diese Fragen sind, wie ich glaube, gerade im Zusammenhang regionaler Kultur von besonderer Bedeutung. Die Zukunft der Kinos in den Regionen kann nicht ohne den Blick zurück in die regionale Filmgeschichte geplant werden. Geschichte ist immer auch Gegenwart und Zukunft.

Eine erste Tagung über Probleme regionaler Filmgeschichte hat mehrere Funktionen zu erfüllen: ihr kommt die Aufgabe einer Bestandsaufnahme zu, sie hat den Begriff der Filmregion an dem der Filmmetropole zu spiegeln und zu schärfen, und sie hat Perspektiven künftiger Filmarbeit, regionaler wie übergreifender, zu skizzieren.


aus:

Steffen, Joachim/ Thiele, Jens/ Poch, Bernd (Hg.):
"SPURENSUCHE. Film und Kino in der Region. Dokumentation der 1. Expertentagung zu Fragen regionaler Filmforschung und Kinokultur in Oldenburg"; Oldenburg 1993, S. 9-18.

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